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Ex-Topreferee Crucke im Interview: „Videobeweis ist noch nicht ausgereift“

Jean-François Crucke beim Gespräch mit "Ostbelgien Direkt". Foto: OD

Mit hohen Erwartungen ist in einigen Ligen und Wettbewerben der Video-Schiedsrichter eingeführt worden. Diskussionen gibt es trotzdem noch. „Ostbelgien Direkt“ führte zu diesem Thema ein Gespräch mit dem früheren Eupener Schiedsrichter Jean-François Crucke.

Crucke, heute 68 Jahre alt, gehörte in den 1980er Jahren zu den Top-Referees in Belgien. Anfang der 1990er Jahren musste er wegen einer Verletzung die Schiri-Pfeife an den berühmten Nagel hängen.

Crucke blieb dennoch im belgischen und internationalen Fußball aktiv, zunächst als Schiedsrichter-Beobachter und danach als UEFA-Delegierter. Letztere Funktion hat ihn durch ganz Europa geführt – an diesem Sonntag nach Kaiserslautern zum Spiel in der WM-Qualifikation zwischen Deutschland und Aserbaidschan.

Schiedsrichter Wim Smet schaut sich eine strittige Szene im Spiel der Pro League zwischen RC Genk und KV Mechelen am 28. August 2017 an einem Bildschirm am Spielfeldrand genauer an. Foto: Belga

In zwei Jahren, wenn er 70 Jahre alt wird, muss Crucke die Tätigkeit als UEFA-Delegierter beenden, kann dann aber noch fünf Jahre als Delegierter in Belgien aktiv sein, so wie vor einer Woche in Anderlecht beim „Klassiker“ gegen Standard Lüttich.

Nachfolgend das Gespräch von OD mit Jean-François Crucke zum Thema Video-Schiedsrichter.

OD: Jean-François Crucke, was sagen Sie denjenigen, die behaupten, dass die AS Eupen ohne den Videobeweis ihr letztes Spiel gegen den RC Genk gewonnen hätte, denn die Gäste bekamen erst durch den Videobeweis einen Handelfmeter zugesprochen?

Jean-François Crucke: Das kann durchaus sein. Genauso könnte man aber die Frage stellen, ob der Sieg dann auch gerecht gewesen wäre, wenn der Schiedsrichter nicht auf Elfmeter entschieden hätte, obwohl der Strafstoß berechtigt gewesen wäre. Immerhin ist ja der Sinn des Videobeweises der, dass es weniger Fehlentscheidungen des Schiedsrichters geben soll. In dem Spiel hat es einen Fehler weniger gegeben, wenngleich in diesem Fall zu Ungunsten der AS Eupen. Gleichzeitig sollte man auch das Spiel Mouscron – Mechelen in Erinnerung rufen. Hier wurde eine Situation, die zum Unentschieden führte, ohne den Videobeweis falsch interpretiert.

Anlaufzeit war zu kurz

OD: Trotzdem kann man es als ungerecht empfinden, weil der Elfmeter für Genk in einem anderen Spiel, bei dem es keinen Videobeweis gab, nicht gegeben worden wäre. Weshalb hat man in Belgien nicht mit der Einführung des Videobeweises gewartet, bis auch alle acht Spiele eines Spieltages über einen Video-Referee hätten verfügen können statt nur eine oder zwei Begegnungen, wie dies momentan der Fall ist?

Bundesligaspiel zwischen Hertha BSC und Bayern München am 01.10.2017 im Olympiastadion in Berlin: Schiedsrichter Harm Osmers (rechts) zeigt vor Bayerns Spieler Franck Ribéry den Videobeweis an. Foto: Annegret Hilse/dpa

Crucke: Klar, es wäre mit Sicherheit besser gewesen, wenn alle acht Spiele mit dem Video-Schiedsrichter bestritten würden. Ohnehin bin ich der Meinung, dass die Anlaufzeit für die Einführung des Videobeweises in Belgien zu kurz war.

OD: Inwiefern?

Crucke: Es wurden zwar im vergangenen Jahr einige Tests gemacht, aber das waren Tests, die außerhalb des Spielbetriebs durchgeführt wurden, also nicht unter realen Bedingungen. Mir scheint, dass man sich nicht genügend Zeit genommen hat, um die Schiedsrichter auf diese besondere Situation vorzubereiten.

OD: Man hätte zum Beispiel Tests während der Play-offs 2, die eh nicht viel taugen, unter realen Bedingungen durchführen können.

Crucke: Ja, warum nicht in den Play-offs 2, die dann auch wirklich Sinn gemacht hätten?

OD: Nun gibt es verschiedene Methoden beim Videobeweis. In der deutschen Bundesliga sitzt der Video-Schiedsrichter in einem Studio in Köln. Dort nimmt er die strittigen Phasen unter die Lupe und sagt dem Hauptschiedsrichter, wie er die Szene bewertet.

Crucke: In Deutschland ist der Video-Schiedsrichter in dem Studio in Köln ein Top-Schiedsrichter.

Zu wenig Vertrauen in Video-Referee?

OD: In Belgien hingegen sitzt eine Person, die nicht einmal ein Pro-League-Schiedsrichter ist, außerhalb des Stadions in einem Bus und bittet den Hauptschiedsrichter allenfalls darum, sich eine bestimmte Szene selbst an einem Bildschirm am Spielfeldrand anzuschauen.

Der Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann sitzt am 20.07.2017 in Köln in einem Videoassistcenter vor Monitoren, die einzelne Spielszenen zeigen. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Crucke: Im Gegensatz zu Deutschland hat der Video-Schiedsrichter in Belgien längst nicht das Niveau des Schiedsrichters auf dem Platz. Und weil der Video-Schiedsrichter in Belgien nicht das Niveau des Unparteiischen auf dem Rasen hat, fehlt diesem natürlich unter Umständen auch das nötige Vertrauen in den Video-Referee. Wenn Video-Schiedsrichter und Hauptschiedsrichter das gleiche Niveau hätten, würde das System im Belgien besser funktionieren.

OD: Weshalb macht man das denn nicht in Belgien?

Crucke: Das ist wohl eine Frage des Geldes. Der Hauptschiedsrichter erhält mehr als 1.000 Euro pro Spiel. Hingegen muss sich der Video-Referee mit 80 Euro begnügen. Auch daran sieht man wieder, dass die Einführung des Videobeweises in Belgien nicht genug durchdacht, nicht ausgereift war. Die Schiedsrichter sind ins kalte Wasser gestürzt worden.

Fouls im Strafraum rückläufig

OD: In Belgien gibt es den Videobeweis bei 1-2 Begegnungen pro Spieltag, in der Bundesliga bei jedem Spiel und in anderen Ligen sowie in der Champions League und der Europa League, wo es um Millionen Euro geht, überhaupt nicht. Bei der WM 2018 soll es in allen Partien den Videobeweis geben. Weshalb diese krassen Unterschiede?

Crucke: Das hat viel mit dem Machtkampf zu tun, den sich seinerzeit UEFA-Präsident Michel Platini und FIFA-Chef Sepp Blatter lieferten. Während Blatter keine richtige Meinung zum Video-Schiedsrichter hatte, war Platini dagegen und führte stattdessen den 5. und 6. Schiedsrichter ein…

OD: …die aber nicht viel bringen…

Der Begriff „Video Assist“ wird am 27.08.2017 im Bundesliga-Spiel SC Freiburg – RB Leipzig nach dem Leipziger Tor zum 3:1 auf dem Stadionbildschirm angezeigt. Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Crucke: …die schon etwas bringen, was man aber so auf Anhieb nicht sieht. Die Fouls im Strafraum sind rückläufig, insbesondere was das Ziehen und Zupfen am Trikot des Gegenspielers betrifft. Die Situation ist vergleichbar mit dem Lehrer, der hinten in der Klasse steht. Wenn die Schüler nicht wissen, ob sie beobachtet werden, dann passiert schon weniger.

OD: Wie geht das jetzt weiter in Belgien mit dem Video-Referee nach dieser Saison?

Crucke: Das ist noch nicht entschieden. Für diese Saison hatte die FIFA einige Länder gefragt, den Videobeweis zu testen, und zwar unter  verschiedenen Bedingungen. Belgien ist eines der Länder, in denen der Video-Schiedsrichter eingesetzt wird. Man muss danach mal abwarten, was die FIFA aufgrund der Erfahrungen, die gemacht wurden, entscheidet.

OD: Diskussionen über einzelne Szenen wird es wohl auch künftig im Fußball geben, oder?

Crucke: Natürlich. Nehmen wir nur als Beispiel ein Handspiel im Strafraum. Selbst wenn das Handspiel in der Wiederholung zu sehen ist, stellt sich immer noch die Frage, ob das Handspiel absichtlich war oder nicht, ob die Hand zum Ball ging oder umgekehrt.

OD: Und wie lautet Ihr Fazit heute?

Crucke: Grundsätzlich ist der Videobeweis eine positive Sache, wenn das System mal ausgetestet und ausgereift ist, was jetzt noch nicht der Fall ist. Und der Video-Referee ist auch gut für die Schiedsrichter, insofern diese den Videobeweis nicht als negative Kontrolle interpretieren, sondern als ein Hilfsmittel, das ihnen die Aufgabe erleichtert. (cre)

4 Antworten auf “Ex-Topreferee Crucke im Interview: „Videobeweis ist noch nicht ausgereift“”

  1. Der Videobeweis ist eine tolle Sache. Ich finde jedoch, dass man hätte warten müssen, bis die Technik in allen Profiligen und allen Wettbewerben im Profifußball eingeführt wurde. Ich pflichte auch Crucke bei, wenn er sagt, dass man den Video Referee schon letzte Saison in den Playoffs II hätte testen müssen. So wären auch die PO II wenigstens zu etwas gut gewesen.

  2. Mischutka

    Zuerst : sehr gute und interessante Fragen (von OB) und Antworten (von J.-F. Crucke). Vielen Dank.
    Dann : Ich habe die Sache mit dem Video-Schiedsrichter jetzt seit einiger Zeit im Fernsehen (Schland) verfolgt. Und festgestellt : Wenn irgendeine Mannschaft durch Befragung des Video-Schiris ein Vorteil hat, ist das System immer „sehr sehr gut“. Fühlt sich eine Elf allerdings benachteiligt (auch wenn es nicht der Fall sein sollte) ist der Video-Beweis immer „blöd, doof, nicht fähig, nicht ausgereift“ usw…. Kurz : Man wird es niemals jedem Recht machen können. (So wie es immer im Leben ist).
    MfG.

  3. Man sollte nicht zu viel am Video-Schiedsrichter herummäkeln. Es ist normal, dass ein derart revolutionäres System noch einige Kinderkrankheiten kennt. Andererseits wird der Videobeweis nicht so glasklar entscheiden können wie die Torlinientechnik. Da weiß man eindeutig, ob der Ball im vollen Umfang die Linie überschritten hat. Bei Fouls im Strafraum ist oft nicht genau zu erkennen, ob es elfmeterreif ist oder nicht. Also, besser mal abwarten und Tee trinken.

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