Gesellschaft

100 Jahre Erster Weltkrieg (2. Teil): Aus Freunden wurden häufig Feinde

Rotkreuz-Schwestern im Bahnhof Herbesthal. Foto: Sammlung Ruland

Als „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ haben viele Belgier den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und den Überfall deutscher Truppen auf ihr Land am 4. August 1914 empfunden. Ganz besonders einschneidend erlebten die Bewohner im hiesigen Grenzland, wo sich der Überfall als Erstes abspielte, den Krieg, der das harmonische Zusammenleben der Menschen über die Grenzen hinweg jäh unterbrach und häufig aus Freunden Feinde machte.

Diese Verwerfungen wirken in der Euregio über mehrere Generationen bis in die Gegenwart nach. Diese These vertrat der Regionalhistoriker Dr. Herbert Ruland vergangene Woche in einem Vortrag in Eupen, den er mit einem Ausspruch des deutschen Kaisers Wilhelm II. anlässlich des Boxer-Aufstands in China um 1900 überschrieben hatte: „Pardon wird nicht gegeben“.

Limburger Platt als gemeinsame Sprache

Rückzug 1918: Ein als Strohpuppe aufgehängter Wilhelm II., vermutlich in Welkenraedt. Foto: Sammlung Ruland

Rückzug 1918: Ein als Strohpuppe aufgehängter Wilhelm II., vermutlich in Welkenraedt. Foto: Sammlung Ruland

Das könnte auch das Motto für die deutschen Besatzungstruppen in Belgien 14 Jahre später gewesen sein, die mit einer nie dagewesenen Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung herrschten.

Der Schlieffen-Plan sah vor, dass nach dem Überfall auf Belgien und unter Umgehung der französischen Forts an der Ostgrenze die deutschen Truppen Paris in 31 Tagen erreichten. Ein fataler Irrtum, wie sich schon in den ersten Kriegstagen zeigen sollte.

Ruland erging sich aber nicht in strategischen Erwägungen, sondern versuchte das Kriegsgeschehen und die Zeit davor aus der Sicht “des kleinen Mannes“ zu skizzieren. Postkarten und andere Dokumente zeigen, dass die Menschen sich im Grenzraum, den man heute als Euregio bezeichnet, eng verbunden fühlten.

Das geschah vor allem durch die gemeinsame Sprache, das Limburger Platt. So besuchten im damals noch existierenden Neutral-Moresnet etwa bei einer Kirmes Militärs aus Belgien, den Niederlanden und Preußen in ihren jeweiligen Uniformen das Fest und tranken friedlich ihr Bier.

Am Vierländerpunkt bei Vaals herrschte in der Vorkriegszeit bereits ein lebhafter Tourismus. Heiraten über die Grenzen hinweg war selbstverständlich, ebenso der Einkauf dort, wo es am billigsten war. Bei der Weltausstellung 1905 in Lüttich war das Restaurant „Oberbayern“ eine Attraktion.

Deutscher Überfall beendete friedliche Koexistenz

Elektrozaun bei Schloss Beusdael (bei Sippenaeken). Foto: Sammlung Ruland

Elektrozaun bei Schloss Beusdael (bei Sippenaeken). Foto: Sammlung Ruland

 

Diese friedliche Koexistenz wurde jäh durch den deutschen Überfall auf das neutrale Belgien beendet.

Nachdem die deutsche Heeresführung, so Ruland, bereits in den ersten Kriegstagen erkennen musste, dass man die belgischen „Pralinésoldaten“ unterschätzt hatte, habe der ursprünglich geplante rasche Durchzug durch das Königreich die Formen eines Vernichtungskriegs zu Lasten der Zivilbevölkerung angenommen.

Ruland nannte als Beispiel das Massaker von Herve, wo noch heute die Gräber von 124 Ermordeten dafür ein deutliches Zeugnis liefern. In Dinant seien über zehn Prozent der rund 6000 Einwohner von deutschen Truppen vorsätzlich ermordet worden. Dinant, so Ruland, sei nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige belgische Stadt gewesen, in der bis in die 1960er Jahre keine D-Mark von Touristen angenommen wurde.

Ruland Herbert

Dr. Herbert Ruland, Leiter von GrenzGeschichteDG an der Autonomen Hochschule. Foto: BRF

Die Erlebnisse ihrer Eltern mit den deutschen Truppen hätten viele Belgier im Zweiten Weltkrieg dazu gebracht, sich in der Résistance zu engagieren, glaubt Ruland. Und diese Verwerfungen bestünden in manchen Familien noch heute, so Ruland.

Für den Regionalhistoriker ist deshalb das 100-jährige Jubiläum des Ersten Weltkriegs am 4. August 2014 ein Anlass, gerade mit Jugendlichen noch bestehende Vorurteile aufzuarbeiten und zu einer Form der Versöhnung zu gelangen. Unter diesen Leitgedanken möchte er auch die Vielzahl der Aktivitäten stellen, die jetzt in der Deutschsprachigen Gemeinschaft geplant werden.

ULRICH KÖLSCH

Wer sich speziell für die Spuren des Ersten Weltkriegs im Grenzland interessiert, kann sich für den 25. Mai 2013 zu einer ganztägigen Exkursion anmelden (Tel. 087-590513).

Siehe auch 1. Teil „100 Jahre Erster Weltkrieg: Harmonisches Miteinander im Grenzgebiet wurde zerstört“

Siehe auch „Leute von heute“-Meldung „Dr. Alfred Minke“

 

5 Antworten auf “100 Jahre Erster Weltkrieg (2. Teil): Aus Freunden wurden häufig Feinde”

  1. „Dinant, so Ruland, sei nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige belgische Stadt gewesen, in der bis in die 1960er Jahre keine D-Mark von Touristen angenommen wurde.“

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass man bis Ende 2001 überall in Belgien D-Mark annahm. Ich habe niemals erlebt, dass in Verviers oder Lüttich jemand mit D-Mark bezahlt hat.
    Warum auch?

  2. gerhards

    In Kelia gab es immer eine Zweite Kasse für Mark :-) Ich denke das es bei uns keine Vorurteile mehr gibt, mein Enkel hat mittlerweile sogar wieder einem deutschen Pass. Alles wird oder ist doch schon wieder so als ob es 1914 nicht gegeben hat, gut so!

    • Werner Pelzer

      Vorurteile gibt es mehr als genug. Fragen Sie mal nach in Bleyberg, Gemmenich, Welkenraedt und auch Kelmis. Ganz zu schweigen vom Rest des Landes. Die Deutschen – und zu denen gehören für die Frankophonen auch die DG-Bürger – schleppen immer noch ein schlechtes Image mit sich herum, wenn auch völlig zu Unrecht.

  3. DerPunkt

    Da muss mir etwas entgangen sein. Die Muttersprache meiner Eltern war also Limburger Platt. Darüber hinaus: zwecks Vermeidung einer Kollektivschuld, bemüht man einen von uns nicht gewünschten Überfall auf Belgien. Korrekt wäre: mit Sicherheit nicht gewünscht, jedoch waren die Kriegsgründe nun doch etwas komplexer als regionale westdeutsche (und noch nicht ostbelgische) lokale Befindlichkeiten. Die Bemühung einer limburgischen (doch eher auf mittelalterlichen Strukturen) beruhenden Identität im 21. Jahrhundert zwecks Rechtfertigung unserer heissgeliebten belgischen Einheit erscheint doch etwas zweifelhaft. Auch sollte man mit solchen Thesen die seit gut 20 Jahren gewachsene Einheit mit dem südlichen Teil Ostbelgiens nicht überbelasten: kein Limburger Dialekt, keine Limburger Herrschaftsstrukturen, jedoch eine Luxemburger Grenze auf Petergensfeld (bewusste Geschichtsverkürzung).
    Soll uns hier vermittelt werden, dass wir genau da sind wo wir uns wohl fühlen?

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