Politik

Erstmals entscheidet Stichwahl über Präsidentenamt in der Türkei – So geht es weiter [Fragen & Antworten]

21.04.2023, Türkei, Istanbul: Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, hält eine Rede während einer Wahlkampfveranstaltung. Foto: Francisco Seco/AP/dpa

AKTUALISIERT – Die Wahlen in der Türkei sind noch nicht entschieden, aber für Erdogan sind sie jetzt schon eine Art Erfolg. Trotz Krise hat er sich gegen ein historisch einmaliges Parteienbündnis durchgesetzt.

Die Präsidentschaftswahlen in der Türkei gehen in die zweite Runde. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu stehen sich am 28. Mai in einer Stichwahl gegenüber. Dass die durch das nationalistische Lager entschieden werden könnte, scheint seit Sonntagabend fast gewiss.

– Hat Erdogan die Wahl nun gewonnen oder verloren?

Beides. Bei die Präsidentschaftswahl hat Amtsinhaber Erdogan laut vorläufigen Endergebnissen zwar die meisten Stimmenerhalten und damit gewonnen. Die erforderliche absolute Mehrheit von mehr als 50 Prozent verpasste er aber knapp. Herausforderer Kilicdaroglu fehlten dafür mindestens fünf Prozentpunkte. Der drittplatzierte Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz erhielt 5,17 Prozent. Er scheidet damit aus, in der Stichwahl treffen nur zwei Kandidaten aufeinander.

– Warum hat sich der Oppositionskandidat nicht durchgesetzt?

14.05.2023, Türkei, Ankara: Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP-Partei und Präsidentschaftskandidat der Nationalen Allianz, winkt seinen Anhängern nach der Stimmabgabe in einem Wahllokal. Foto: Ali Unal/AP/dpa

Kemal Kilicdaroglu trat als Kandidat eines für die Türkei einmaligen und über ideologische Gräben hinweg geschmiedeten Parteien-Bündnisses an. Er gab sich als Versöhner, vor allem aber als Gegenkandidat zu Erdogan, der im Wahlkampf gegen die Opposition und seine Kritiker hetzte. Diese Strategie ist zumindest vorerst nicht aufgegangen. Laut Sinem Adar von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat Kilicdaroglu Teile des nationalistischen Lagers durch seine Annäherung mit der prokurdischen Partei HDP verloren. Äußerungen Erdogans, der das mit der Unterstützung von „Terroristen“ gleichsetzte, hätten offenbar gefruchtet. Nun stecke die CHP in einem Dilemma: Die bitter benötigten Stimmen des Ultranationalisten Sinan Ogan könne er wohl nur auf Kosten der des kurdischen Lagers für sich gewinnen.

– Wie geht es jetzt weiter?

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Türkei, dass es zur Stichwahl um das Präsidentenamt kommt. Die 61 Millionen Wähler im Inland sind am 28. Mai erneut dazu aufgerufen, ihren Stempel unter einem der beiden Kandidaten zu machen. Auch die 3,4 Millionen Wahlberechtigten im Ausland müssen erneut an die Urne treten.

– Wer ist Sinan Ogan und wieso ist er nun wichtiger Akteur?

Ogan trat als Präsidentschaftskandidat eines Rechtsaußen-Bündnisses säkularer Nationalisten an. Bei den Wahlen erhielt er deutlich mehr Stimmen als angenommen. Beobachter werten das als frustrierte Reaktion nationalistischer Wähler, die in der zweiten Runde nun wahlentscheidend werden könnten.

11.03.2023, Türkei, Ankara: Sinan Ogan, Präsidentschaftskandidat von der nationalistischen Ata-Allianz, spricht bei einem Treffen eines neu gegründeten Bündnisses. Foto: Burhan Ozbilici/AP/dpa

Ogans Wähler gelten jedoch als zersplittert. Unter ihnen gibt es sowohl ehemalige Erdogan-Anhänger als auch eher der Opposition Zugeneigte. Für eine Wahlempfehlung fordert Ogan Zugeständnisse von den Kandidaten der Stichwahl. Unter anderem will er eine Zusicherung, Flüchtlinge aus dem Land zu schaffen.

– An wen ist das Parlament gegangen?

Zur Wahl des Parlaments gibt es noch keine vorläufigen Endergebnisse. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur hält die Allianz um Erdogan aber weiter ihre Mehrheit. Sie hat voraussichtlich weniger Sitze als in der vorigen Regierungsperiode, aber eine absolute Mehrheit. Das Parlament ist unter Erdogan stark entmachtet worden. Dennoch könnte die AKP ihre Mehrheit dort dazu nutzen, Kilicdaroglu zu blockieren, sollte er die Stichwahl gewinnen.

– Wer hat bessere Chancen bei der Stichwahl – und warum?

Offizielle Prognosen gibt es noch keine. Entscheidend wird unter anderem sein, wie sich die Wähler von Ogan entscheiden, der nicht in die Stichwahl zieht. Auch kommt es darauf an, wie viele Wähler Kilicdaroglu erneut mobilisieren kann nach der Enttäuschung über eine erste Quasi-Niederlage, die für viele seiner Anhänger unerwartet kam. Beobachter gehen davon aus, dass die Mehrheit im Parlament den Ton dafür setzen könnte, wie die Abstimmung in zwei Wochen abläuft. Sollten Parlament und Präsident sich blockieren, droht eine Regierungskrise.

14.05.2023, Nordrhein-Westfalen, Duisburg: Am Abend der Wahl fahren Anhänger des bislang amtierenden türkischen Präsidenten Erdogan in Duisburg-Marxloh mit ihren Autos über die Straßen, Hupkonzerte ertönen, türkische Flaggen werden geschwenkt. Foto: Christoph Reichwein/dpa

– Wie hat das Ausland abgestimmt?

72,31 Prozent der in Belgien lebenden Türken ihre Stimme bei den Wahlen in ihrem Heimatland für Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und dessen Partei AKP abgegeben. Nur rund ein Viertel der belgischen Türken (24,65 Prozent) gaben dessen Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, ihre Stimme. Der Ultranationalist Sinan Ogan erhielt 2,15 Prozent der Stimmen und Muharrem Ince 0,89 Prozent. Auch bei den wahlberechtigten Türken in Deutschland gab es erneut eine deutliche Mehrheit für Recep Tayyip Erdogan. Auf den Amtsinhaber entfielen beim Stand von knapp 98 Prozent der ausgezählten Wahlurnen aus Deutschland knapp zwei Drittel der Stimmen.

– Sind die Wahlen fair abgelaufen?

Die Ergebnisse wurden bisher nicht massiv angezweifelt, weder von der Opposition noch von Wahlbeobachtern. Die Beobachtermission des Europarates und der OSZE bemängelte jedoch, dass die Türkei nicht die Voraussetzunge für demokratische Wahlen erfülle. Die Wahlen fanden unter sehr ungleichen Voraussetzungen statt: Erdogan und seine AKP kontrollieren die meisten Medien im Land. Ihre Deutung der Dinge kommt de facto sehr viel mehr vor. Auch bei der Verteilung der Wahlmittel gab es große Ungleichheiten zwischen Regierung und Opposition. Der prokurdischen Oppositionspartei HDP etwa drohte bis kurz vor der Wahl ein Verbot, was international als politisch motiviert eingestuft wurde. (dpa/cre)

25 Antworten auf “Erstmals entscheidet Stichwahl über Präsidentenamt in der Türkei – So geht es weiter [Fragen & Antworten]”

  1. Der Zyniker

    Österreich: Kılıçdaroğlu 24,57% , Erdoğan 73,21%
    Deutschland: Kılıçdaroğlu 32,91% , Erdoğan 64,99%
    Frankreich: Kılıçdaroğlu 38%, Erdoğan 60,43%
    Dänemark: Kılıçdaroğlu 38,55%, Erdoğan 59,21%
    Belgien: Kılıçdaroğlu 25,45%, Erdoğan 71,2%
    Niederlande: Kılıçdaroğlu 28,86%, Erdoğan 68,4%
    Luxemburg: Kılıçdaroğlu 38,90%, Erdoğan 59,19%

    [tlw. noch nicht alle Stimmen ausgezählt – Aber Tendenz ist zu erkennen]
    https://secim2023.hurriyet.com.tr/14-mayis-2023-secimleri/cumhurbaskanligi-yurtdisi-secim-sonuclari

    • Erwin Haep

      doch ich habe jahrelang in Köln gearbeitet. Erdogan erhält die meisten Stimmen im Ausland. daher kommt er auch nach Köln und macht verbotene Wahlpropaganda für sich. Die Türken sind stolz hier wählen zu dürfen, sozusagen „Ihren“ Präsidenten…

    • @Der Zyniker
      Vielen Dank für Ihre detaillierte Aufstellung. Das habe ich mir gedacht, dass Erdogan im Ausland gewinnt
      Dieses Wahlrecht für im Ausland lebende sollte umgehend abgeschafft werden
      Die Leute, die in der Türkei leben, und unter Erdogan leiden, kommen einfach nicht raus aus dieser Regierung. Und ich hoffe nicht, dass Erdogan das jetzt doch noch schafft.

      • Der Zyniker

        Wenn man es genau nimmt, dann trifft das nur auf „Zentral“-Europa (D, AU, F, B, NL, L, DK, N) & Kosovo und einige „Nah-Ost“-Länder zu, wie Saudi-Arabien, Katar, Irak, Iran, Jordanien, Kuwait, Libanon, Libyen, Pakistan & Marokko (Afrika) und Kirgistan (Asien).

        Im Rest der Welt scheint Kılıçdaroğlu eher vorne zu liegen, tlw. mit bis zu 80%.
        V. Arabische Emirate, GB, Tansania, USA, Montenegro, Serbien, Korea, Weißrussland, Tschechien, Estland, Georgien, Kasachstan, Litauen, Mazedonien, Moldawien, Russland, Slowakei, Turkmenistan, Ukraine, Albanien, Australien, Bahrain, Brasilien, Bulgarien, Kanada, China, Nord-Zypern, Finnland, Griechenland, Ungarn, Irland, Israel, Italien, Japan, Malta, Neuseeland, Nigeria, Oman, Polen, Portugal, Rumänien, Singapur, Südafrika, Spanien, Schweden, Schweiz, Thailand.

        Anm.: Es könnte sein, dass ich ein paar Länder übersehen … bzw. falsch übersetzt habe (Google-Translator)

  2. noergeler

    Die Türken in Europa entscheiden über das Schiksal ihrer in der Türkei unter der Diktatur Erdogans leidenden Landsleute, während Sie hier wie die Maden im Speck leben.Ich finde es nicht normal dass diese leute hier ihren eigen Staat leben.Man hat sich anzupassen in dem Land wo man lebtund die dortigen Kulturen zu respektieren und nicht zu Unterwandern!

  3. Patriot Belgique

    Lass sie doch wählen was sie wollen. Ausbaden müssen es die Türken in der Türkei. Wirtschaftlich hat es Erdogan weit mit der Türkei gebracht, im Gegensatz zu seinen Vorgängern das waren alles Nieten. Dummerweise hat er sich in den letzten Jahren verzettelt und er hätte einen jüngeren Nachfolger aufbauen müssen. Wie so meistens lässt es aber das Ego nicht zu , Merkel war auch so ein Fall, tragisch für die Menschen. Es gibt am Ende nur Verlierer. Das ist das generelle Problem wenn es an demokratischen Traditionen fehlt. Oder Bildung, ja , fehlende Bildung ist da auch so ein Problem aber das ist grundsätzlich so.

    • Walter Keutgen

      Patriot Belgique, guter Kommentar. An alle, nicht vergessen die Menschenrechtsverletzungen unter dem andauernden Wechselbad Eçevit-Demirel. Und spielte nicht die Armee auch ab und zu mit?

    • Der Zyniker

      Um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass es sich tatsächlich um „wirtschaftliche“ Begründungen handelt.

      Wie Sie schon in einem anderen Kommentar erwähnt haben, viele Ostbelgier sind von der Mentalität her deutscher als ein Deutscher. So sieht es aber leider auch mit den hiesigen Moslems in Europa aus, die meist auch von der Mentalität her muslimischer sind als ihre Landsleute im eigenen Land.
      Und wen wählen die dann, den Mann, der den Islam im In- und Ausland fördert und allg. stärken will ODER denjenigen, der wieder zu säkulären/laizistischen Wurzeln zurückkehren möchte.

      Ich finde, das Ergebnis der Wahl verrät viel mehr über den Zustand vom Kern Europas (D, F, B, NL, AU,…) als der Türkei selber, was auch den Konservativ/Rechts-Ruck in diesen Ländern nachvollziehen lässt und wenn wir ehrlich sind – es kompliziert macht – da es keine politische Mitte mehr zu geben scheint. Das politische Spektrum wurde auf Links oder Rechts reduziert.

    • Ekel Alfred

      @ Patriot Belgique, der Mensch ist ein Egoist von Natur aus….je MEHR er hat….je MEHR er will….oder….der Mensch denkt zuerst an sich….und (eventuell noch) die SEINEN….ansonsten….KEINEN….

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