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100 Jahre Türkei: Erdogans ungeliebtes Atatürk-Erbe

10.11.2017, Türkei, Ankara: Dieses Bild zeigt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der bei einer Zeremonie zum 79. Todestag des türkischen Gründungsvaters Mustafa Kemal Atatürk spricht. IKayhan Ozer/Presidency Press Service/AP/dpa

Am 29. Oktober 1923 ruft Kemal Atatürk die Türkische Republik aus. Hundert Jahre später ist das Land von politischen Gräben und Konflikten geprägt, von Feierstimmung wenig zu spüren. Präsident Erdogan kommt das durchaus gelegen.

Wenn sich die Ausrufung der Türkischen Republik am Sonntag zum hundertsten Mal jährt, dürfte besonders einem nicht nach Feiern zumute sein. Denn mit Präsident Recep Tayyip Erdogan steht ein Mann an der Spitze des 1923 von Kemal Atatürk gegründeten Staates, der das Land in eine ganz andere Richtung lenken will als dessen Gründervater. Bisweilen mit Erfolg.

Die Türkei wurde nach dem Ende des Osmanischen Reiches gegründet. Atatürk verpasste dem Land in autoritärer Manier einen Wandel von oben: Nicht in der Tradition der Osmanen stehend, sondern dem Westen zugewandt und modern sollte sie sein, die neue Türkei. Frauen erhielten in den 1930er Jahren das aktive und passive Wahlrecht, statt dem arabischen sollte nun das lateinische Alphabet gelten, das sogenannte Hutgesetz verbot Turban und Fez. In Istanbul sollte getragen werden, was auch in westeuropäischen Großstädten getragen wurde.

05.03.2019, Türkei, Istanbul: Eine Frau blickt aus einem Fenster hinter einem Banner des türkischen Staatsgründers Atatürk (l) und des türkischen Präsidenten Erdogan, nachdem Erdogan bei einer Wahlkampfveranstaltung der Regierungspartei AKP aufgetreten ist. Foto: Lefteris Pitarakis/AP/dpa

Bis heute ist der Personenkult um Atatürk lebendig: Das Abbild des ersten Präsidenten findet sich an Wänden in Amtsstuben, Restaurants, Wohnzimmern, seine Unterschrift prangt auf Autos und als Tätowierung auf der Haut von Landsleuten.

Doch ist Atatürks Erbe gleichsam umstritten. Nicht nur Angehörige von Minderheiten im Land wie Teile der kurdischen Bevölkerung sehen in dem Staatsgründer einen Unterdrücker. Der von ihm geprägte streng säkulare Kurs – also die klare Trennung von Religion und Staat – gefiel nicht allen in dem mehrheitlich muslimischen Land. Religion wurde in die Privatsphäre verbannt. Auch damit erklärt sich der Aufstieg Erdogans.

Anstatt in die Tradition des Staatsgründers stellt er sich in die Tradition der Osmanen, inszeniert sich als Schutzherr der Muslime weltweit und reaktiviert den von Atatürk abgelegten Panturkismus, den Mythos einer Verbundenheit aller Turkvölker. Es ist vor allem Erdogan, der Religion wieder in die Politik holt, der das Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen aufhebt und die Religionsbehörde stärkt.

Während die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit 2002 noch für eine breitere Gesellschaft Politik machte, ist sie heute Sprachrohr einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe. „Die AKP repräsentiert nur die eigene Wählerschaft – der streng muslimisch konservative Teil der Bevölkerung – die türkische Nation“, schreiben die Politikwissenschaftler Günter Seufert und Christopher Kubaseck in ihrem Buch „Abschied von Atatürk“. Das stelle das Land vor eine Zerreißprobe, weil die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes negiert werde.

Anhänger Erdogans erzählen eine andere Geschichte. Viele fühlen sich erst seit der Machtübernahme des konservativen Muslims frei. Özlem Zengin etwa, AKP-Abgeordnete und Parteimitglied der ersten Stunde, hat das Kopftuchverbot in die Politik getrieben. In einem Interview erklärt sie die „Suche nach Freiheit“ und das „Streben nach Gerechtigkeit“ zu ihrer größten Motivation. Die Juristin sagt, die Gesetze zum Tragen des Kopftuches hätten sie damals davon abgehalten, ihren Job auszuüben. Nun sitze sie, wie viele weitere Frauen, mit Kopftuch im Parlament.

Der Bosporus, Meerenge zwischen Europa und Kleinasien. Die Türkei spielt nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch wegen ihrer geostrategischen Bedeutung international eine bedeutende Rolle. Foto: Shutterstock

Dass diesen Aussagen nur eine begrenzte Definition von Freiheit zugrunde liegt, zeigt sich auch im harten Vorgehen der AKP-Regierung gegen ihre Kritiker. Erdogan setzt auf ein Freund-Feind-Schema, um sich der Zustimmung aus der Bevölkerung zu versichern: schwule, lesbische und queere Menschen, die Opposition, Terroristen – Erdogan verschmilzt sie rhetorisch zu einem vermeintlichen Gegner, der den frommen Türken gegenüberstehe.

Die Europäische Union attestiert dem Land seit Jahren deutliche Rückschritte bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Unabhängigkeit der Justiz, die Beitrittsverhandlungen liegen entsprechend auf Eis. Auch vom diesjährigen Bericht der EU-Kommission müsse erwartet werden, dass er weitere Rückschritte festhält, sagte der EU-Botschafter in der Türkei, Nikolaus Meyer-Landrut, der Deutschen Presse-Agentur.

„Keiner hat die Türkei nach Atatürk geprägt wie Erdogan“, sagt Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci-Universität in Istanbul. Dennoch blicke der heutige Staatschef mit Neid auf Atatürk. Anstelle eines 100-jährigen Jubiläums würde Erdogan wohl lieber „eine zweite Gründung der Republik schaffen, aber mit völlig anderen Vorzeichen – viel konservativer, näher an den Staaten des Nahen Ostens, autoritärer und reaktionärer“.

Dabei sei auch Erdogan selbst Profiteur des Erbes von Kemal Atatürks sogenanntem Kemalismus. Mehr noch, ohne Atatürk wäre Erdogan „niemals Präsident geworden“, meint Esen. Das heutige Staatsoberhaupt komme schließlich aus einer Familie der unteren Mittelschicht – und für deren sozialen Aufstieg habe Atatürk die Voraussetzungen geschaffen.

Die AKP habe zudem Institutionen geerbt, deren Stärke ebenfalls auf Atatürk zurückgehe, sagt Esen: „Die Türkei verfügt über eine starke Bürokratie, die Erdogan zur Umsetzung seiner Agenda genutzt hat.“ Seit Jahren werden die demokratischen Institutionen des Landes ausgehöhlt. Die Justiz und die Medien sind der Regierung in großen Teilen unterstellt, Wirtschaft und Gesellschaft sind geprägt von Klientelismus und Vetternwirtschaft, schreiben Seufert und Kubaseck.

„Auch Atatürk war alles andere als ein Demokrat. (…) Dass die Türkei nach einhundert Jahren Abschied von ihm nimmt, könnte auch ein positives Zeichen sein“, schreiben die Politikwissenschaftler. „Dass dieser Abschied über die Herrschaft eines neuen starken Manns geschieht, ist keine gute Nachricht.“ (dpa)

11 Antworten auf “100 Jahre Türkei: Erdogans ungeliebtes Atatürk-Erbe”

  1. Rastamann

    Jeder der noch in die Türkei zum Billigurlaub fährt und diesen Dispoten damit unterstützt, sollte am besten gleich dableiben.

    *EM 2024. Die Türkei ist qualifiziert. Das gibt ähnliche Bilder wie mit den Marokanern in Brüssel bei der WM.

  2. Ermitler

    Hab ihr euch das angesehen in Fernsehn was der Erdogan so über uns denkt,und ich frage mich warum wir diese Leute- hier dulden müssen,sollte es mal Probleme geben mit den Türken/Mosleme, dann haben wir unsere Gegner sofort hier vor Ort.Es ist an der Zeit einen Plan dagegen zuerstellen,oder sehe ich das falsch.Stellt euch mal vor unsere Poliktiker würden so eine Rede halten was dann , wer würde dafür alles auf die Strasse gehen von uns mit Fahne ? und von den Türken gegen uns ?
    Was mich wohl auf- gefallen ist ,das fast keiner der jungen Frauen ein Kopftuch trug.

    • Robin Wood

      @Ermitler
      Nein, ich habe die Rede nicht angesehen.
      Ich habe gelesen, dass letztes Jahr mehr als doppelt so viele Türken nach Deutschland eingewandert sind als im Vorjahr.
      Die Politik wird allerdings wieder nur reagieren, wenn es Probleme geben sollte, sie wird nicht vorab agieren. Hinterher heisst es dann wieder, ach wer hätte das ahnen können. Wir sehen es ja an der unkontrollierten Migration seit 2015 – alles sollte bunt und multi-kulti werden. Das ist es nun. Nur nicht so, wie die Politiker es uns vorausgesagt haben.
      Ausserdem bekommt Erdogan Millarden an EU-(Steuer-)Geld, um Flüchtlinge in der Türkei zu versorgen. Ob das Geld auch dort ankommt, wage ich zu bezweifeln. Wer weiss, mit welchem Geld er sich seine Prachtvilla gebaut hat?

    • AK 47 souk

      Wir dulden sie nicht, sie werden uns augezwungen. Sie dürfen frei rumlaufen und tun was sie wollen, wir werden an die Leine genommen. Ein Dank an unsere Politiker sei hier ausgesprochen!

  3. Robin Wood

    „Der von ihm geprägte streng säkulare Kurs – also die klare Trennung von Religion und Staat – gefiel nicht allen in dem mehrheitlich muslimischen Land. Religion wurde in die Privatsphäre verbannt. Auch damit erklärt sich der Aufstieg Erdogans.“

    Und genau da liegt das Problem. So kann auch hier die Integration nicht funktionieren. Von einigen Ausnahmen abgesehen.

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