Notizen

Brexit mehr denn je eine Schwergeburt: Abgeordnete verschiebt Kaiserschnitt wegen Brexit-Abstimmung

Das Illustrationsbild zeigt eine hochschwangere Frau mit der britischen Nationalflagge. Foto: Shutterstock

AKTUALISIERT – Die britische Labour-Abgeordnete Tulip Siddiq hat wegen der Abstimmung über das Brexit-Abkommen die Geburt ihres Kindes verschoben. Damit erweist sich der Deal um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nicht nur im übertragenen Sinne, sondern tatsächlich als Schwergeburt.

Eigentlich sollte die EU-freundliche Politikerin am Dienstag ihren Sohn per Kaiserschnitt zur Welt bringen. Nach britischen Medienberichten stimmten die Mediziner aber einer Verschiebung des Eingriffes um zwei Tage auf kommenden Donnerstag zu.

Sie wolle die Chance nutzen und „für eine stärkere Beziehung zwischen Großbritannien und Europa“ kämpfen, zitierte der „Evening Standard“ die 36-Jährige, die ihren Wahlkreis im Nordwesten Londons hat.

Unklar war zunächst, auf welche Weise sie abstimmen sollte: im Rollstuhl im Parlament oder vom Krankenhaus aus. Die Abgeordnete, die schon eine Tochter hat, setzt sich für ein zweites Brexit-Referendum ein.

15.11.2018, Belgien, Brüssel: EU-Unterhändler Michel Barnier (l) und Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, blättern durch den Entwurf des Austrittsvertrags der Europäischen Union mit Großbritannien vor einer
Pressekonferenz im Europa-Gebäude. Foto: Francisco Seco/AP/dpa

Das britische Parlament soll am heutigen Dienstag über das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen von Premierministerin Theresa May abstimmen. Trotz neuer Zusicherungen aus Brüssel werden der Regierungschefin kaum Chancen eingeräumt, eine Mehrheit für ihren Deal zu bekommen. Zu groß ist der Widerstand dagegen.

Etwa 100 Abgeordnete ihrer eigenen Partei haben sich bereits gegen das Abkommen ausgesprochen. Auch die nordirische Protestantenpartei DUP, von deren Stimmen Mays Minderheitsregierung abhängt, will gegen den Austrittsvertrag votieren.

Die Oppositionsparteien wollen geschlossen gegen Mays Deal stimmen. Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte im Fall einer Niederlage Mays ein Misstrauensvotum im Parlament an.

D-Day für Premierministerin Theresa May

Die Beschlussvorlage der Regierung kann vor der eigentlichen Abstimmung noch abgeändert werden. Die Abgeordneten könnten damit eine Richtung vorgeben, wie es nach der Ablehnung weitergehen soll. Es kann sogar sein, dass der ursprüngliche Beschlusstext so stark verändert wird, dass die eigentliche Abstimmung gar nicht erst stattfindet. Mit den Abstimmungen wird gegen 20 Uhr (MEZ) gerechnet.

Nachfolgend die wichtigsten Fragen und Antworten zu der Abstimmung über den Brexit-Deal und die möglichen Folgen.

– Worum geht es bei der Abstimmung?

Im langwierigen Streit über den britischen EU-Austritt haben sich die Abgeordneten des britischen Unterhauses 2017 eine Art Veto-Recht für das Brexit-Abkommen mit Brüssel gesichert.

14.01.2019, Großbritannien, Stoke-on-Trent: Theresa May, Premierministerin von Großbritannien, besucht eine Fabrik des Unternehmens Portmeirion. Am Dienstag (15.01.2019) wird im Londoner Parlament über das Brexit-Abkommen abgestimmt. Foto: Ben Birchall/PA Wire/dpa

Dieses kann die britische Regierung nur nach Zustimmung des Parlaments unterzeichnen. Und die Abgeordneten können Bedingungen vorgeben. Die Abstimmung wird daher als «meaningful vote» bezeichnet, als «bedeutungsvolles Votum». Anschließend ist noch ein Gesetzgebungsverfahren notwendig, um den Vertrag rechtskräftig zu machen.

– Was passiert, wenn der Deal angenommen wird?

Sollte May das Abkommen durchs Parlament bringen, könnte der EU-Austritt sehr wahrscheinlich wie geplant am 29. März über die Bühne gehen. Dann bliebe in einer Übergangsphase bis mindestens Ende 2020 im Alltag fast alles, wie es ist. Brüssel und London könnten an ihrer neuen Beziehung arbeiten. Die Gefahr eines chaotischen Bruchs wäre zunächst gebannt. Die Zustimmung gilt aber als sehr unwahrscheinlich.

– Wer ist für und wer gegen Mays Deal?

Von den 650 Abgeordneten des Unterhauses stimmen nur 639 ab. Sieben Sinn-Fein-Abgeordnete nehmen ihre Mandate nicht wahr, die vier Parlamentssprecher bleiben stets neutral. May bräuchte für ihr Brexit-Abkommen daher mindestens 320 Stimmen. Von den 317 Abgeordneten ihrer eigenen Konservativen Partei haben aber etwa 100 ein Nein angekündigt. Hinzu kommt nicht nur der Widerstand der Opposition, sondern auch der nordirischen DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist. Sollte May sich mit Hilfe von Oppositionsstimmen doch irgendwie gegen den Willen der DUP durchsetzen, könnten sich die Nordiren einem Misstrauensvotum anschließen und May zu Fall bringen. Innerhalb von 14 Tagen müsste dann eine neue Regierung gebildet werden, sonst gäbe es eine Neuwahl.

– Was passiert, wenn der Deal am Dienstag abgelehnt wird?

Das ist sehr schwer vorherzusagen. Großbritannien hat keine geschriebene Verfassung. Laut EU-Austrittsgesetz muss die Regierung spätestens 21 Tage nach der Ablehnung dem Parlament darlegen, wie es weitergehen soll. Das Unterhaus hat diese Frist theoretisch auf drei Sitzungstage verkürzt – das wäre Montag, 21. Januar. Aber es ist unklar, ob die Regierung rechtlich an diese Frist gebunden wäre.

26.09.2018, Großbritannien, Liverpool: Labour-Chef Jeremy Corbyn hält eine Rede auf dem Parteitag der Labour Party im Arena and Convention Centre. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Spätestens sieben Tage nach dem Vorlegen eines Plans B muss die Regierung laut Gesetz darüber abstimmen lassen. Das wäre nach derzeitigem Stand der 31. Januar. Die Abgeordneten könnten diesen Plan B abändern und beispielsweise eine engere Anbindung an die EU fordern oder ein zweites Referendum. Aber auch hier wäre nicht klar, inwieweit die Regierung gebunden wäre.

– Kann es passieren, dass die Abstimmung gar nicht stattfindet?

Im Prinzip ja. Bevor über die Beschlussvorlage der Regierung abgestimmt wird, kann sie durch die Abgeordneten noch abgeändert werden. Sollte der Text so stark verändert werden, dass die Regierung selbst bei einer Zustimmung kein Mandat dafür hätte, das Abkommen zu unterzeichnen, wäre eine Abstimmung obsolet. Für May hätte das den Vorteil, dass ihr eine krachende Niederlage möglicherweise erspart bliebe, sie könnte stattdessen beanspruchen, den Auftrag für Nachverhandlungen mit der EU erhalten zu haben.

– Kann May die Abstimmung solange wiederholen, bis das Ergebnis stimmt?

Theoretisch ja. May könnte nach einer Ablehnung versuchen, weitere Zusicherungen aus Brüssel einzuholen oder Zugeständnisse an Labour zu machen und den Deal erneut zur Abstimmung stellen. Die Regierungschefin könnte hoffen, dass die Furcht vor einem Austritt ohne Abkommen in letzter Sekunde Wirkung zeigt. «Der einzige Weg, „No Deal“ zu verhindern, ist, für einen Deal zu stimmen», lautet ihr neuestes Mantra. Nach Ansicht von Experten könnte die Regierung die Entscheidung auch in das Gesetzgebungsverfahren verschieben, mit dem das Brexit-Abkommen in britisches Recht übertragen werden soll. Die Stunde der Wahrheit würde hinausgeschoben – immer näher an den Klippenrand, mit der das Austrittsdatum am 29. März 2019 in Großbritannien oft verglichen wird.

– Könnte sich London mehr Zeit kaufen?

Großbritannien könnte eine Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge beantragen, die die übrigen 27 Staaten einstimmig billigen müssten – und wohl auch würden. Die EU hält eine Verschiebung des Brexits über das vorgesehene Datum 29. März hinaus für möglich. Das sagten Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur am Montag in Brüssel. Der britische «Guardian» berichtete gar über eine mögliche Verlängerung der Austrittsfrist bis Juli. Premierministerin May schloss das bei einer Rede vor Fabrikarbeitern am Montag in der mittelenglischen Brexit-Hochburg Stoke-on-Trent jedoch prompt aus.

14.01.2019, Großbritannien, London: Demonstranten stehen vor dem Parlament. Foto: Victoria Jones/PA Wire/dpa

Alternativ könnte Großbritannien seinen Austrittsantrag einseitig zurückziehen – und es womöglich einige Monate später noch einmal versuchen. Problematisch wäre bei einer Verschiebung des Austritts, dass Großbritannien wohl noch einmal an der Europawahl teilnehmen müsste und für fünf weitere Jahre Abgeordnete bestimmen müsste.

– Kann das Chaos im Fall eines No-Deal-Szenarios abgemildert werden?

Ohne Ratifizierung und ohne Verschiebung bliebe der „No Deal“, aber auch hier sind verschiedene Varianten denkbar. So wird spekuliert, dass man die im Vertrag vereinbarte Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020 auch ohne Ratifizierung in Kraft setzen könnte, um die schlimmsten Brexit-Folgen abzufedern. Oder dass man sehr kurzfristig noch Notvereinbarungen verhandeln könnte. Die EU-Seite lehnt ein solches „no deal agreement“ aber zumindest bisher strikt ab. (dpa)

6 Antworten auf “Brexit mehr denn je eine Schwergeburt: Abgeordnete verschiebt Kaiserschnitt wegen Brexit-Abstimmung”

  1. Réalité

    Grausam, wie da die Politiker, diese BREXIT Sache behandelt haben!? Furchtbar! Man kann es nur betonen!
    Ein Cameron lässt darüber abstimmen, vergisst damit eine 2/3 Quote einzubauen.
    Die Populistischen Verursacher, belogen das Volk nach Strich und Faden, vor der Wahl!
    Danach gingen sie auf Flucht!
    Jetzt sieht, noch hört man keinen mehr von denen! Der Ulkige Johnson, ein Springinsfeld sondergleichen. Der Farage kassierte genüsslich seine EU Diäten weiter, obschon er gegen die E U ist!?
    Diese Lügner zogen das Volk überm Tisch, jetzt haben sie die Bescheerung!
    England ist nie ein guter Europäer gewesen. Immer wieder haben sie geklagt und umm Extrawürste gebettelt! Das alles war schon mit der Mme Tatcher so! Übrigens, warum fahren sie als einzige auf der Welt noch immer links!? Eben! Weil sie Engländer sind!?
    Jedenfalls sollten sie danach keine Extrawürste mehr bekommen!
    Im Moment läuft „Hart aber Fair“, da geht’s um Klartext. Populisten wie die Frau Storch bekommen da Prügel, richtig so!
    Aber eines sollte sich dringendst in Brüssel ändern!
    Leute wie der Juncker sollten da nicht mehr hin, denn keine Reklame für diese wichtige Stelle?! Und die EU Politiker sollten zu ihren Wurzeln zurück kehren! Europa braucht eine starke Führung, aber nicht den ganzen Zirkus und dessen Clowns allemale, in den überzähligen Instanzen usw!
    Dies gilt übrigens für alle Existierenden „Politik Ausübenden“, besonders auch in den Landes Regierungen! Da wird sehr vieles im Stillen ausgeübt in deren Reihen, was sowas zum „ABSCHAFFEN“ reizt, wie nur etwas!
    Aber die Profitöre packen es nicht an! Bis es eines Tages zu spät ist!

    • Walter Keutgen

      Réalité, aufgepasst, noch etwa 50 Länder fahren links, alles ehemalige britische Kolonien.

      Die englischen Politiker sind wankelmütig. Cameron hatte gelobt, den Austritt als Erstminister zu begleiten, sollte das Volk gegen seinen Rat dafür stimmen, und ist dann sofort abgetreten. May war für den Austritt, hat aber aus Loyalität zu Cameron dagegen argumentiert. Dann übernimmt sie den Erstministerposten und versucht scheinbar zuerst am Parlament vorbei zu verhandeln. Sie nimmt dabei Brexit-Befürworter ins Kabinett, um deren Loyalität zu haben, was daneben ging.

      Ironischerweise ist Farage mit einer Deutschen verheiratet.

  2. Idée fixe

    War es nicht wie bei uns in der DG, die Sehnsucht nach der unversehrten Identität, dem geeinten Untersichbleiben, die Sehnsucht nach dem Dazumal in entsicherten Zeiten als stärkste Triebkraft, die vor allem die ältere, ländliche Bevölkerung bei der Abstimmung leitete?

    Also dann mal ran traut euch!

  3. Zaungast

    Eine Frage hier oben lautet: „Könnte sich London mehr Zeit kaufen?“
    „Kaufen“ sicher nicht, denn wenn man etwas kaufen will, muss man einen Preis dafür bezahlen.
    Was könnte London denn anbieten, damit die EU einen Aufschub gewährt? Nichts.

    Die britische Regierung hätte vor dem Referendum, das ja nicht bindend war, und auch noch vor dem Auslösen der Austrittsprozedur (Artikel 50) genug Zeit gehabt, um die Folgen eines Brexits auszuloten. Dass sie das nicht getan hat, sondern sich Hals über Kopf völlig unvorbereitet in das Referendum und danach in die Austrittsverhandlungen gestürzt hat, war eine politische Eselei ersten Grades.

    Wer seinen Mietvertrag kündigt, ohne sich vorher Gedanken darüber zu machen, wo er hinziehen will, wie die Bedingungen dort sind und wie der Auszug geregelt werden soll, wer im Gegenteil noch vom Vermieter erwartet, ja von ihm verlangt, gewisse Einrichtungen der alten Wohnung kostenfrei nutzen zu können, der ist nicht bei Trost. Wenn dann noch die Familie heillos zerstritten ist über die Zukunft und sich nicht auf eine neue Wohnung einigen kann, und dann noch um Aufschub der Kündigung bettelt, verdient sie kein Mitleid.

    Dabei bedaure ich den Auszug der Briten, bei aller Quertreiberei, die sie Jahrzehnte lang in der EU betrieben haben. Ich bin aber der Meinung, dass der Brexit erfolgen sollte, wenn kein weicher, dann eben ein harter. Zögen sie ihren Antrag zurück, hätten wir es mit einem zutiefst gespaltenen Land zu tun, denn die inneren Streitereien würden ja weitergehen. Jeder Vorschlag aus Brüssel würde von den Brexit-Anhängern vehement bekämpft werden. Jeder echte oder vermeintliche Nachteil oder Kompromiss würde mit dem Kommentar „Wenn wir die EU verlassen hätten, dann…“ abgelehnt werden.

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