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25 Jahre nach Völkermord bleibt Srebrenica Europas offene Wunde – 8.000 Tote

16.07.1995, Bosnien-Herzegowina, Tuzla: Eine bosnische Frau weint, nachdem sie von muslimischen Männern, die in Tuzla ankamen, erfahren hat, dass ihr Mann von bosnischen Serben getötet wurde, die die von der UNO zur sicheren Zone erklärte Stadt Srebrenica überrannt hatten. Foto: Michel Euler/AP/dpa

Es war das schlimmste singuläre Massaker auf europäischem Boden seit 1945. Die Hauptdrahtzieher des Völkermords von Srebrenica hat das Haager Tribunal verurteilt. Doch wie steht es mit der Schuldeinsicht auf der Täterseite?

Als die Truppen des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic am 11. Juli 1995 in die ostbosnische Muslim-Enklave Srebrenica einrückten, fielen kaum Schüsse. Die Männer in dem zur UN-Schutzzone erklärten Gebiet hatten kaum Waffen.

Die niederländischen UN-Truppen („Blauhelme“) in ihrer Basis Potocari am Ortseingang von Srebrenica forderten Luftunterstützung der Nato an. Sie kam nicht – abgesehen von der symbolischen Bombardierung eines einzigen Panzers der Eroberer.

10.07.2020, Großbritannien, Edinburgh: Samir Mehanovic, Regiesseur aus Bosnien-Herzegowina, zündet Kerzen an zum Gedenken an die Opfer, die bei dem Massaker in Srenenica vor 25 Jahren ums Leben gekommen sind. Mehanovic ist 1995 während des Kriegs nach Großbritannien ausgewandert. Das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg jährt sich am Samstag zum 25. Mal. Foto: Jane Barlow/PA Wire/dpa

Dem sichtlich vor Angst schlotternden Oberst Thomas Karremans, Kommandeur des UN-Bataillons („Dutchbat“), diktierte General Mladic die Bedingungen seiner Kapitulation – vor den laufenden Kameras des serbischen Fernsehens. Die „Blauhelme“ assistierten bei der Deportation von 23.000 Frauen und Kindern, ehe sie bei freiem Geleit abziehen durften.

Zugleich begann am 11. Juli 1995, im vierten und letzten Jahr des Bosnienkriegs, der erste Völkermord auf europäischem Boden seit 1945.

Mladic und Radovan Karadzic, der Führer der bosnischen Serben, hatten – unterstützt vom serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic (1941-2006) – ihre Pläne nie verhehlt. Die „Türken“, wie sie die Muslime in den ostbosnischen Enklaven verächtlich nannten, standen ihrem Projekt eines „Groß-Serbiens“ mit „ethnisch reinen“ serbischen Territorien in weiten Teilen des Vielvölkerstaats Bosnien im Wege.

Die 15.000 Männer und männlichen Jugendlichen in der Enklave wussten, welches Schicksal ihnen drohte. Noch am 11. Juli machten sich die meisten von ihnen zu Fuß auf den Weg, um sich durch Berge und Wälder ins 100 Kilometer entfernte Tuzla durchzuschlagen. Jene Männer und Jugendlichen, die zögerten, wurden von Mladic‘ Truppen gleich in Potocari und Umgebung erschossen.

Ein Forensiker untersucht Knochnreste nach der Aushebung eines Massengrabes in Srebrenica. Auch am 25. Jahrestag des Verbrechens von Srebrenica wird man wieder sterbliche Überreste von Opfern im Rahmen des Gedenkens in Potocari beisetzen. Foto: Shutterstock

In den nächsten Tagen eröffnete die Mladic-Armee eine Treibjagd auf den Tross der Fliehenden. Die meisten ergaben sich, wenn sie auf bosnisch-serbische Soldaten stießen. Sie wurden an den Händen gefesselt und abgeführt. Wenig später wurden sie auf Wiesen, Feldern, in Ställen oder Lagerhallen erschossen. Ihre Leichen verscharrte man in schnell ausgehobenen Massengräbern.

Wochen oder Monate später grub man sie wieder aus, um sie anderswo auf dem Gebiet der bosnischen Serbenrepublik (Republika Srpska) zu vergraben. Die Spuren sollten verwischt werden.

Mehr als 8.000 Männer und Jugendliche wurden umgebracht. Heute noch werden Leichen und Leichenteile gefunden. Durch aufwändige DNA-Analysen werden sie den Opfern zugeordnet. Auch am 25. Jahrestag des Verbrechens von Srebrenica wird man wieder sterbliche Überreste von Opfern im Rahmen des Gedenkens in Potocari beisetzen.

Das Töten gefangener Gegner stellt ebenso ein Kriegsverbrechen dar wie die systematische Vertreibung von Zivilisten. Das Internationale Jugoslawien-Tribunal in Den Haag hat die Untaten von Srebrenica in mehreren Urteilen als Genozid bewertet. Tatsächlich hatte Mladic die gesamte muslimische Bevölkerung von Srebrenica vertreiben oder ermorden lassen.

Im Marmor gemeißelte Namen der Opfer in der Gedenkstätte Potocari in der Nähe von Srebrenica (Bosnien-Herzegowina). Foto: Shutterstock

Im November 2017 verurteilte das Haager UN-Tribunal den heute 77-Jährigen wegen Srebrenica und anderer Verbrechen in erster Instanz zu lebenslanger Haft. „Sie zählen zu den abscheulichsten, die die Menschheit je gesehen hat“, befand Richter Alphonse Orie. Im Herbst steht die Berufungsverhandlung an. Karadzic erhielt im Vorjahr lebenslänglich, sein Urteil ist rechtskräftig.

Im Bosnienkrieg (1992-1995) begingen alle Seiten Kriegsverbrechen. Die serbische Seite ging besonders grausam vor. Ihr Projekt „Groß-Serbien“ sah die „ethnische Säuberung“ von weiten Gebieten mit hauptsächlich muslimischer, kroatischer oder gemischter Bevölkerung vor.

Die Truppen von Mladic und mit ihnen verbündete Freischärlerbanden vertrieben Hunderttausende und töteten Zehntausende Zivilisten. Sie belagerten jahrelang Städte wie Sarajevo und Srebrenica. Tausende Frauen wurden Opfer von Massenvergewaltigungen.

25 Jahre später zeigt sich bei den politischen Eliten in Serbien und in der Republika Srpska wenig Schuldeinsicht – trotz der akribisch begründeten Haager Urteile. „Es ist eine Situation der durchgängigen Genozid-Verleugnung“, sagt Emir Suljagic, der Direktor des Gedenkzentrums in Potocari, im Skype-Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Die politische Klasse, die akademische Lehre, die Medien, selbst die Serbisch-Orthodoxe Kirche machen da mit. Es ist eine Kultur der Genozid-Verleugnung.“

05.08.1993, Bosnien-Herzegowina, Pale: Radovan Karadzic (r), politischer Führer der bosnischen Serben im Bürgerkrieg (1992 – 1995), und sein Militärchef Ratko Mladic sprechen miteinander bei einem gemeinsamen Auftritt. Foto: Str/epa/dpa

Suljagic ist selbst ein Überlebender des Massakers von Srebrenica. Als damals 19-Jähriger war er Dolmetscher bei den „Blauhelmen“ und durfte mit ihnen die Enklave verlassen. Später studierte er Politikwissenschaften, wurde Journalist und Politiker. Sein auch auf deutsch erschienenes Buch „Srebrenica – Notizen aus der Hölle“ zählt zu den eindringlichsten Zeitzeugen-Berichten, die vom Leiden und Sterben der Menschen im belagerten und eroberten Srebrenica künden.

Der Europäischen Union (EU) nimmt es Suljagic übel, dass sie zu Beginn der 2010er Jahre die internationalen Richter „ohne Not“ aus dem bosnischen Justizwesen abzog. Das Haager Tribunal hat seine Tätigkeit inzwischen an einen Nachfolgemechanismus übergeben. Es sollte ohnehin nur die großen und prominenten Fälle behandeln.

Doch Tausende beteiligten sich an Kriegsverbrechen, ihre Schuld sollten bosnische Gerichte verhandeln. „Die Zahl dieser Verfahren ging drastisch zurück“, stellt Suljagic fest. „Die, die Schuld auf sich geladen haben, fühlen sich ermutigt und auf der Siegerseite. Ihre Sympathisanten kontrollieren die Justiz.“ (cre)

14 Antworten auf “25 Jahre nach Völkermord bleibt Srebrenica Europas offene Wunde – 8.000 Tote”

      • denke global, handle lokal

        Seltsam. Hat Peter Müller Serben oder Bosnier denn überhaupt erwähnt? Ich hatte ihn dahingehend verstanden, die Niederländer seien aus ihrem schändlichen Verhalten nicht schlau geworden sondern würden per staatlich organisiertem Rassismus weiterhin über Leichen gehen.

        Ich bin froh, dass ich die innerniederländischen Debatten über das damalige Massentot-bringende Gebaren nicht führen muss.

  1. Guido Scholzen

    Dieses Ereignis zeigte, dass die EU nicht den Frieden in Europa sichern kann.
    Dieses Ereignis zeigte auch, dass die UNO nicht den Frieden in Europa sichern kann.

    Der Friede in Europa wurde seit dem Ende des 2.Weltkrieges allein von der NATO garantiert, und sonst von niemandem. Den USA sei Dank.

  2. Marcel Scholzen eimerscheid

    Ich war vor zwei Jahren in Sarajevo, weil ich mich für die Geschichte des Bosnienkrieges interessiere. Dieser Krieg war ein Religionskrieg. Serben, Kroaten, Bosniaken unterscheiden sich durch die Religion, nicht durch die Sprache. Serbisch, Kroatisch, Bosnisch unterscheiden sich nur minimal. Zur Zeit von Tito sprach man von Serbokroatisch.
    Serben sind Orthodox, Kroaten katholisch, Bosniaken moslemisch.

    Habe auch ein Museum besucht, das dem ersten Bosnischen Präsidenten Itzetbegovic gewidmet ist. Sehr interessant. Dieser wollte einen moslemischen Staat in Bosnien. Und damit waren die Serben nicht einverstanden. Hatten Angst, dass sie als Christen wieder zu Menschen zweiter Klasse werden wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches. Nur das rechtfertigt keinen Völkermord wie in Srebrenica.

    Mittlerweile ist Sarajevo eine der wenigen Hauptstädte in Europa mit einer moslemischen Bevölkerungsmehrheit. Aber als Tourist ist es kein Problem Alkohol zu trinken oder mit kurzen Klamotten durch die Gegend zu laufen. Die sind froh mit jedem Touristen, der Geld ins Land bringt. Den osmanischen Einfluss merkt man zum Beispiel beim Kaffee. Ist Mokka. Habe selten so guten Kaffee getrunken. Und in Bosnien bezahlt man mit Konvertibler Mark. Die Deutsche Mark war Vorbild. Ist fest an den Euro gekoppelt. (Stichwort Currency board). Daher ist 1 € = 1,95 KM.

    Auffällig ist der stärker werdende arabische Einfluss. Habe in einem Einkaufszentrum Immobilienagenturen gesehen, die auf Araber spezialisiert sind. Die Prospekte sind auf Arabisch nicht auf bosnisch oder englisch.

    War auch in Mostar. Die Stadt ist gespalten zwischen Bosniaken und Kroaten. Getrennt durch einen Fluss. Die Atmosphäre in beiden Stadtteilen ist verschieden. Bei den Kroaten kann man mit Euro, KM oder Kuna bezahlen. Bei den Bosniaken nur mit Euro oder KM. Die Spannungen dauern bis heute an. Die Kroaten haben ein Riesengroßes Kreuz auf einem Berg gebaut, weit sichtbar . Und die Bosniaken provozieren durch lautstarke Gebete aus den Moscheen, ua in den Abendstunden wenn Restaurants und Kneipen gut besucht sind. Der Hass wird jetzt weitergegeben an die nächste Generation, die den Krieg nur aus Erzählungen der Eltern kennt.

    Bosnien Herzegowina ist ein durch und durch künstlicher Staat mit einer komplexen Struktur. Noch komplizierter als Belgien und das will was heißen. Und Frieden wird es dort nie geben. Man kann schon froh sein, dass es keinen Krieg gibt. Der Balken war, ist und bleibt ein Pulverfass.

  3. karlh1berens

    Zitat @Marcel Scholzen eimerscheid 11/07/2020 05:45 :
    „Dieser wollte einen moslemischen Staat in Bosnien. Und damit waren die Serben nicht einverstanden. Hatten Angst, dass sie als Christen wieder zu Menschen zweiter Klasse werden wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches. Nur das rechtfertigt keinen Völkermord wie in Srebrenica.“

    Zu einem solchen Mord wird es auch nicht mehr so „einfach“ kommen.
    Mir hat ein muslimischer Bosnier erzählt, dass es zu diesem Massaker nur kommen konnte weil die Serben Waffen hatten und die (muslimischen) Bosnier komplett unbewaffnet waren. Heute hätte deshalb JEDE muslimische Familie in Serbien eine Waffe inklusive Munition im Garten verbuddelt.
    Waffen können Leben schützen !

  4. Zaungast

    „Und deshalb wollen die linken Gutmenschen (Neo-Marxisten!) in unserer Gesellschaft auch das (noch) vorhandene Waffenrecht am liebsten abschaffen.“

    Ziemlich nebulös, Herr Scholzen. Was meinen Sie denn nun genau?

    Welches „Waffenrecht“? Das Recht für jeden Bürger, Schusswaffen jeden Kalibers horten zu dürfen, so wie in den USA?
    Das gibt es aber in Belgien nicht und kann also auch nicht durch irgendwelche „linken Gutmenschen (Neomarxisten!)“ abgeschafft werden.

    Oder die Gesetze, den den Besitz von Waffen streng reglementieren, so dass nicht jeder durchgeknallte Typ sich im nächsten Waffengeschäft ein Schnellfeuergewehr kaufen kann, samt Kisten voll Munition, wie in den USA? Die wollen diese „linken… (s.o.)“ abschaffen? Woher haben Sie das? Das wollen wohl eher die „rechten Bösmenschen. Neonazis!“

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