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Schweden gegen den Rest der Welt? Sonderweg im Kampf gegen das Coronavirus hat einen hohen Preis

08.04.2020, Schweden, Nacka: In Nacka, einem Vorort von Stockholm, laufen und spazieren Menschen. Foto: Andres Kudacki/AP/dpa

Während in großen Teilen Europas die Menschen wegen der Coronavirus-Pandemie zu Hause bleiben müssen, dürfen sich die Schweden weiter zum Bier treffen, Sport treiben und zum Friseur gehen. Die liberale Haltung hat ihren Preis.

In Stockholm ist es seit einigen Tagen ähnlich sonnig wie bei uns. Und doch gibt es einen Unterschied: Am Wochenende waren Straßencafés und Parks in der schwedischen Hauptstadt gut gefüllt mit Besuchern – etwas, von dem man in anderen europäischen Metropolen wie London, Paris, Brüssel und Madrid derzeit nur träumen kann. Trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus genießen die Schweden deutlich mehr Freizügigkeit.

18.04.2020, Schweden, Malmö: Die Menschen sitzen in Restaurants und Cafés auf Lilla Torg Platz in der Sonne. Der schwedische Sonderweg in der Bekämpfung des Corona-Virus hat einen hohen Preis. Foto: Ludvig Thunman/Bildbyran via ZUMA Press/dpa

Der schwedische Sonderweg in der Corona-Krise hat in mehreren Ländern Verwirrung ausgelöst. Vielerorts, und nicht zuletzt bei den Nachbarn in Dänemark und Norwegen, fragt man sich, ob die Schweden wissentlich und offenen Auges in die Katastrophe laufen – oder sich ihre Strategie am Ende auszahlen wird.

Anders als in den anderen skandinavischen Ländern und in weiten Teilen Europas greift die schwedische Regierung nicht mit äußerst strikten Maßnahmen wie der Schließung von Schulen und Restaurants in den Alltag ihrer Bürger ein.

Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufszentren und Fitnessstudios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.

Mehr Infizierte als in anderen nordischen Ländern

Kristina Lundgren versucht, sich an die Empfehlungen zu halten. Sie ist weit über 80, und ihrer Altersgruppe rät die Regierung ausdrücklich, enge Kontakte zu anderen Menschen meiden. In ihrem Wohnblock in Stockholm lebt sie mit älteren Menschen und Studierenden. Ihr wöchentlicher Kaffeeklatsch und die Kinovorführung wurden abgesagt, und wenn Lundgren im Freien auf Nachbarn trifft, hält sie zwei Meter Abstand.

Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Foto: —/Folkhälsomyndigheten/dpa

„Wir müssen uns an die Regeln halten“, sagt sie. Ihre Cousine sei kürzlich infolge der Lungenkrankheit Covid-19 verstorben. Doch für die jungen Leute im Haus scheint das nicht relevant. „Ich merke, dass die trotz der Empfehlungen der Gesundheitsbehörde noch Freunde einladen.“

Dass das soziale Leben – zumindest bei den Jungen – weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronavirus registriert als in den anderen nordischen Ländern. Bis Dienstagvormittag starben 1.580 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 360 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.

Ein Land wie Belgien hat zwar mit knapp 6.000 Covid-19-Toten (Stand: 21. April) weit mehr Sterbefälle zu beklagen als Schweden (fast 1.600) bei ungefähr gleicher Einwohnerzahl, jedoch ist unser Land im Gegensatz zu Schweden dichtbesiedelt bei einer Gesamtfläche von rund 30.000 Quadratkilometern (gegenüber rund 448.000 Quadratkilometern für Schweden).

Ungeachtet der hohen Zahlen vertrauen Schwedens Regierung und Gesundheitsbehörde auf den Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Er steht symbolhaft für den schwedischen Sonderweg.

Von Schul- und Grenzschließungen hält er nichts, auch sonst ist seine Strategie eine andere als die, die fast alle anderen in Europa gewählt haben. „Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen“, sagte Tegnell am Montag. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere.

„Die Richtlinien sind zu vage und die Menschen verwirrt“

Die Zahlen der vergangenen Tage scheinen seine Theorie zu bestätigen. Am Freitag sprach Karin Tegmark Wisell von der Gesundheitsbehörde von einem Abwärtstrend bei der Zahl der Toten. „Es gibt immer noch eine große Anzahl von Verstorbenen pro Tag, aber wir sehen keinen Anstieg, sondern eine Verlangsamung.“

18.04.2020, Schweden, Malmö: Menschen sitzen in der Sonne und genießen das sonnige Wetter. Foto: Ludvig Thunman/Bildbyran via ZUMA Press/dpa

Diese Sicht teilen andere nicht. Knapp 2.000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Corona-Kampf bezahlt, für zu hoch. „Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend“, sagt er im Gespräch mit der Deutsche Presse-Agentur. „Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen verwirrt.“

Dass die Kneipen und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. „Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt.“ Dabei würden täglich immer noch Hunderte neue Ansteckungen registriert.

Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. „Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm.“

An Staatsepidemiologe Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe. Immer wieder spricht er von Herdenimmunität – das heißt, die Verbreitung des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind, sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. Tegnell rechnet damit, schon im Mai Anzeichen für eine Immunität in Stockholm erkennen zu können. Er beruft sich dabei auf mathematische Modelle.

Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen

„Schwedens Weg muss nicht falsch sein“, meint Claus Wendt von der Uni Siegen, der die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs analysiert hat. Das Land habe gute Voraussetzungen, der Pandemie zu begegnen. Die Schweden seien allgemein bei guter Gesundheit, es gebe wenig Armut und soziale Ungleichheit und die Gesundheitsdaten der Menschen seien erfasst. „Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich“, so Wendt.

13.04.2020, Schweden, Stockholm: Der schwedische Fußballstar Zlatan Ibrahimovic (M) steht auf dem Spielfeld. Aufgrund des Coronavirus-Ausbruchs in Italien befindet sich Ibrahimovic in Stockholm, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen, und trainiert mit dem Fußballclub Hammarby IF. Foto: Henrik Montgomery/TT News Agency/AP/dpa

Dass Schweden seine gute Ausgangsposition genutzt hat, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus nicht nur abgebremst, sondern unterdrückt – mit so großem Erfolg, dass die Schulen, Kindergärten, Friseure und Zahnärzte zumindest teils wieder öffnen können.

Unklar ist jedoch weiter, wohin der Weg der Schweden genau führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen, Norwegen, Dänemark und Deutschland riskieren, ihr Land wieder schließen zu müssen, wenn sie nicht gewappnet sind.

Für den Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. „Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität“, sagt er. „Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben, die gegen das Virus helfen.“ Das Wichtigste sei, so viele wie möglich zu testen.

Immerhin ist er da einig mit Tegnell und der Regierung: Sie hat vor wenigen Tagen das Ziel angegeben, deutlich mehr Menschen testen zu lassen. (dpa)

Zum Thema siehe auch folgenden Artikel auf OD:

33 Antworten auf “Schweden gegen den Rest der Welt? Sonderweg im Kampf gegen das Coronavirus hat einen hohen Preis”

  1. Ostbelgien Direkt

    ZUSATZ – Ein Land wie Belgien hat zwar mit knapp 6.000 Covid-19-Toten weit mehr Sterbefälle zu beklagen als Schweden (fast 1.600) bei ungefähr gleicher Einwohnerzahl (rund 11 Millionen), jedoch hinkt ein solcher Vergleich, denn Belgien ist im Gegensatz zu Schweden dichtbesiedelt bei einer Gesamtfläche von rund 30.000 Quadratkilometern (gegenüber rund 448.000 Quadratkilometern für Schweden).

    • Ja, OD, aber hier hat man auch vergessen zu sagen, das es einfach nur unbewohntes Land ist.
      Sehr wenige leben wie Einsiedler, die meisten Menschen leben auch dort in Städten und Dörfern, um von A nach B zu kommen, muss man manchmal mehrere km fahren, und man begegnet nicht unbedingt jemandem ;)

    • Das stimmt nur sehr bedingt. Schweden hat mit Stockholm, Göteborg und Malmö 3 große Ballungsräume, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung lebt. Wenn deren Weg also so falsch wäre, müsste in diesen Ballungsgebieten die Zahl der Coronatoten ja förmlich explodieren! Das ist aber nicht der Fall! Warum nicht?

  2. Absolute Disziplin

    Da noch nicht genau feststeht welche Folgeschäden die Viren hervorrufen, ist der Weg den Schweden nimmt abenteuerlich und verantwortungslos. Auch ist noch ungeklärt so der Virologe Wang Joo aus Südkorea ob es zu einer dauerhaften Immunität kommt.

    • Sie nennen den Weg von Schweden „abenteuerlich und verantwortungslos“?

      Wie verantwortungsvoll ist es denn bitte, eine ganze Wirtschaft lahmzulegen ohne zu wissen, welche Folgen da noch auf uns zukommen?! Wie verantwortungsvoll ist es, jetzt die Leute wieder nach und nach rauszulassen, damit diese sich vermutlich erneut infizieren, da der Virus sich nicht einfach ausknipsen lässt? Wie verantwortungsvoll ist es, über andere Lösungsansätze herablassend zu kommentieren, obschon NIEMAND weiß, was der „richtige“ Weg ist?

      Schweden wählt eben einen anderen Weg. Momentan sieht es gut aus und sollte dieser Weg am Ende der richtige sein – was dann? Dann haben alle anderen Europäer Zeit vergeudet und obendrein die Menschen in ein zweites 1984 geschickt!

      Fakt ist auch: hätte man von Anfang an als EU den Flugverkehr von und nach China für mehrere Wochen gesperrt, hätte der Virus uns nie erreicht. Stattdessen Kleinreden und Besserwisserei! Jetzt haben wir den Salat und am Ende sind das auch noch die Helden!

      • Es gibt Leute die verspüren eine Befriedigung wenn sie anderen Menschen Angst einjagen können, das gibt ihnen ein Gefühl von Macht. Kann man in den Corona-Kommentaren in allen Foren finden.

  3. Es gilt ja nicht nur Schweden zu beobachten und zu vergleichen. In Weissrussland wird gar nichts gemacht, in den Elendsvierteln Asiens, Afrikas und Lateinamerikas läuft das Virus sowieso ungebremst durch die Bevölkerung, und selbst in den muslimische Banlieue der Französischen Städte macht jeder weiter was er will, da ist kein Confinement durchsetzbar. Augenblicklich veröffentlich JEDES Land die Corona-Daten die am besten zu seiner aktuellen Corona-Politik passen – immer mit dem Hinweis dass Trump alles falsch macht….
    Die Wahrheit wird man irgendwann zwischen den Zeilen lesen müssen denn offiziell werden alle alles richtig gemacht haben – nur Trump nicht, der macht alles falsch….

  4. Welchen Preis zahlt Schweden? Welchen Preis zahlen wir?
    https://www.welt.de/vermischtes/article207436223/Corona-Krise-Kliniken-fuerchten-Verschleppung-anderer-Krankheiten.html
    ….
    Patienten mit akuten Erkrankungen laufen große Gefahr, wenn sie nicht zum Arzt gehen. „Wenn man akuten Behandlungsbedarf nicht erkennt, riskiert man möglicherweise lebensbedrohliche Probleme“, sagt der Gautinger Chefarzt Reinmuth. „Bei einem Tumor kann eine Verzögerung bedeuten, dass die Erkrankung gar nicht mehr oder mit sehr viel schlechteren Heilungschancen behandelt werden kann.“

    Viele Ärztinnen und Ärzten treibt daher in diesen Tagen eine Frage um: „Wir haben die Sorge, dass wir im Sommer viele Patienten bekommen werden, die besser vier Monate früher gekommen wären“, sagte der Onkologe.
    ////
    Welcher Politiker übernimmt dafür die Verantwortung?

  5. @Dax, ich vermute keiner, die Politiker sind nicht Schuldfähig…..

    Aber andererseits, na ja, etliche Krankenhäuser verdienen kein Geld mit der Chemo etc., das wird so manch einen KH Chef den Kragen kosten.
    Den Pfusch bei OPs gibt’s gerade fast auch nicht….

  6. Marina K.

    @, Schland
    Meine Güte, Sie gehen mir mit Ihrem zynischen Geschreibsel sowas von dermaßen auf den Geist! Was machen Sie eigentlich von Berufswegen? Bei Ihnen ist sicher irgendetwas schief gelaufen

      • Ja, leider gibt es zu wenige kompetente Politiker.
        Schaut man heute nach D, da hat Mutti wieder total versagt! Aber dieser Frau ist auch nicht mehr zu helfen, die steckt so vielen schon im Hintern in den vielen Jahren, so kennt sie sich mit dem Darm bestimmt gut aus.

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