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100 Jahre Erster Weltkrieg (3. Teil): „Für Belgier schlimmer als der Zweite Weltkrieg“

Ein schienengebundenes 42-cm-Bettungsgeschütz von Krupp ("Dicke Bertha") wird am 7. August 1914 bei Lüttich feuerbereit gemacht. Foto: Wikipedia

Belgien stellt sich allmählich auf die Vorbereitung der Gedenkfeiern zum Ersten Weltkrieg (1914-1918) ein. In einem Gespräch mit „Ostbelgien Direkt“ befasst sich der Regionalhistoriker Dr. Herbert Ruland mit der unterschiedlichen Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs in Deutschland und in Belgien im Allgemeinen sowie in der heutigen DG im Besonderen.

An die regionalen Bezüge des Ersten Weltkriegs soll bereits in diesem Jahr, aber vor allem 2014, mit einer Vielzahl von Veranstaltungen in der DG erinnert werden. Ruland koordiniert die zahlreichen Initiativen.

OD: Wenn in Belgien oder Frankreich von der „Grande Guerre“ gesprochen wird, ist nicht der Zweite Weltkrieg gemeint, sondern die Schlachten in der Zeit von 1914 bis 1918. Weshalb ist der Erste Weltkrieg, anders als in Deutschland, in der „Erinnerungskultur“ präsenter als der Zweite Weltkrieg?

Zerbombter Wald bei Ypern. Foto: Wikipedia

Zerbombter Wald bei Ypern. Foto: Wikipedia

Ruland: In Deutschland bestimmen der Holocaust und der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen weitestgehend die öffentliche Erinnerung. Das ist in Belgien anders, wo der Erste Weltkrieg fast viereinhalb Jahre im eigenen Land stattfand. Die staatliche Existenz Belgiens war extrem gefährdet. Belgien und Nordfrankreich erlebten als Frontgebiet erstmals einen umfassenden technisierten Krieg. Der Schock über den Überfall auf ein neutrales Land und die ungeheure Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung hinterließen tiefe Spuren im Bewusstsein der betroffenen Bevölkerung. Viele Zeitzeugen, die von mir vor vielen Jahren befragt wurden und die selbst oder ihre Eltern beide Kriege erlebt haben, sagen übereinstimmend, dass der Erste Weltkrieg als schlimmer empfunden wurde als der folgende. Aber das sind natürlich subjektive Eindrücke.

OD: Sind die Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die die deutsche Armee im neutralen Belgien begangen hat, überhaupt in Deutschland bekannt, oder wurden sie in der Weimarer Zeit und später systematisch heruntergespielt?

Flucht Wilhelms II. (Bildmitte, 4.v.l.) am 10. November 1918 auf dem Bahnsteig des belgisch-niederländischen Grenzübergangs Eijsden kurz vor der Abreise ins niederländische Exil. Foto: Wikipedia

Flucht Wilhelms II. (Bildmitte, 4.v.l.) am 10. November 1918 auf dem Bahnsteig des belgisch-niederländischen Grenzübergangs Eijsden kurz vor der Abreise ins niederländische Exil. Foto: Wikipedia

Ruland: Von der Weltöffentlichkeit, und gerade auch von den neutralen Staaten, in die Defensive gedrängt, versuchte die deutsche Reichsregierung bereits 1915 in einem „Weißbuch“, vornehmlich gestützt auf Zeugenaussagen deutscher Soldaten, ihre These vom „Franctireurkrieg in Belgien“ am Beispiel der Vorkommnisse von Löwen, Dinant, Tamines etc. zu belegen. Auch in der Weimarer Republik und gerade in der NS-Zeit wurde an dieser Vorstellung festgehalten: Ein Eingeständnis deutscher Schuld hätte nach offizieller Ansicht einer gewünschten Revision des Versailler Vertrages zusätzlich im Weg gestanden. Erst 1956 kam eine aus hochrangigen deutschen und belgischen Historikern gebildete Kommission zu dem Ergebnis, dass das oben erwähnte deutsche Weißbuch und somit auch alle auf ihm basierenden offiziösen Werke der Zwischenkriegszeit, etwa die Veröffentlichungen des Reichsarchivs, als ernst zu nehmende Quellen ausschieden: Die Rede war von unhaltbaren Grundthesen sowie von anfechtbaren und planmäßig verfälschten Zeugenaussagen. Dennoch habe ich auch noch bei Vorträgen in den letzten Jahren in Diskussionsbeiträgen von Teilnehmern erlebt, dass diese immer noch an die Mär von metzelnden und mordenden Zivilisten z.B. in Löwen im August 1914 glaubten. Offizielle Lügenpropaganda, die ja die Verbrechen der eigenen Regierung deckte, scheint lange zu halten.

OD: Der Überfall auf Belgien ging zum Teil von einem Gebiet aus, das ab 1920 offiziell Teil des Königreichs wurde. Wie geht man im heutigen Ostbelgien, also in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, mit dieser Problematik um?

Ruland Herbert

Dr. Herbert Ruland, Leiter von GrenzGeschichteDG an der Autonomen Hochschule. Foto: BRF

Ruland: Am 4. August 1914 marschierten 6 deutsche Brigaden völkerrechtswidrig in das neutrale Belgien ein. Die nördlichste kam aus der nahe gelegenen Stadt Aachen und überschritt in Gemmenich die Grenze, die 5 anderen drangen aus den beiden preußischen Grenzkreisen Eupen und Malmedy in das Nachbarland vor. 1920 kamen ja dann diese beiden Kreise definitiv zu Belgien. Während dieser zweite Fakt eigentlich schon immer in der Region wahrgenommen wurde, oft vom „Unrecht an Eupen-Malmedy“ die Rede war und ist, wurde das „Unrecht von 1914“ vielfach verdrängt. Dabei handelt es sich um Ursache und Wirkung. Ohne das Gemetzel des Ersten Weltkriegs, die Niederlage des Kaiserreichs, würde es heute wohl kaum eine „Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens“ geben. Der Kreis Eupen wäre wohl spätestens in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, wie auch das Monschauer Land, im Landkreis Aachen aufgegangen. Im Rahmen der wachsenden Eigenständigkeit, der zunehmenden Übertragung von Kompetenzen an die einzelnen Bundesstaaten in Belgien, der Herausbildung eines gewissen Selbstbewusstseins auch in der DG, sollten in der hiesigen Erinnerungskultur die Ereignisse von 1914 genauso Verankerung finden wie diejenigen von 1920.

ULRICH KÖLSCH

Siehe auch Artikel „100 Jahre Erster Weltkrieg: Harmonisches Miteinander im Grenzgebiet wurde zerstört“

Siehe auch Artikel „100 Jahre Erster Weltkrieg (2. Teil): Aus Freunden wurden häufig Feinde“

 

6 Antworten auf “100 Jahre Erster Weltkrieg (3. Teil): „Für Belgier schlimmer als der Zweite Weltkrieg“”

  1. gerhards

    Die Ostbelgier beziehungsweise , damals noch Westdeutsche, waren 1914 noch die Angreifer und mussten für die Niederlage sowie die Untaten dir büssen, dass sie auf allezeit Belier wurden. Was dann in dem Krieg danach kam und wie wir daran beteiligt waren wird allzugerne unter den Tisch gekehrt. Wie wäre es hier mal mit Aufarbeitung als so olle Kamellen aus Kaiserszeiten? Im übrig, ist es ja gut ausgegangen, lieber Teilstaat mit Paralment in Eupen als Kreistadt im Aachener Land ;-)

  2. Nana Gerhards, die heute als Ostbelgier bezeichneten Westdeutschen waren nich die Angreifer sondern die Soldaten des Kaiserreichs. Büssen musste zuersteinmal das Kaiserreich (Reparationen) und unser Gebiet wurde zum belgischen Kriegsgewinn (nun ja abgewandelte Version des trojanischen Pferdes: hat den belgischen Staat doch schon einiges gekostet).
    Kreisstädte gibt es seit 2009 (Umwandlung in eine Städteregion) nicht mehr für Aachen.
    Was hier gut bzw. ausgegangen ist verschliesst sich meinem Kenntnisstand. Zum 100. von WK1 hat Belgien sicherlich noch ein paar Überraschungen parat.

    • gerhards

      Ich meine Eupen Hauptstadt der DG in Belgien hört sich besser an als Eupen Stadt in der Städteregion Aachen.
      Nicht zuvergessen wir haben ein Paralment mit vier Ministern, wenn alles so geblieben wäre hätten wir lediglich einen Stadtrat mit Bürgermeister.
      Ach ja, unser Dorfclub spielt 2. Liga ,wäre in Deutschland auch so nicht möglich ;-)
      Ich finde Belgien hat sich gelohnt für uns, ob für Belgien selber auch?

  3. gerhards

    Ich meine gut ausgegangen für so manchem der jetzt das belgische sozialsystem geniessen konnte, sprich die Abgeordneten des DG Parlaments und ihre Angestellten. Wäre alles so geblieben wie es war dann wäre Eupen hält Stadt Eupen in der Städteregion, so sind wir, ich hoffe bald, 4. Region Belgiens mit Hauptstadt Eupen. Hört sich doch viel besser an oder?
    Ansonsten wird man versuchen den Beitritt zu Belgien sprich Wallonie als tolle Sache darzustellen, wie immer eben.
    Ist doch nichts neues wenn solche Jahrestage anstehen. Bin dann auch gespannt was es dann wieder “neues“ gibt.

  4. Jürgen Margraff

    Verlustzahlen für Belgien rund 43.000 Soldaten & 62.000 Zivilisten im 1 W.K. – bei einer Bevölkerungszahl von damals zirka 7.400.000 Einwohner, das wäre bei 105.000 Toten etwa 1.41% wow. Ostbelgistan hat während des 2 W.K. etwa 6.500 Soldaten verloren plus noch Zivilisten, hierzulande lebten damals etwa 50.000 Männekes & Frauekes die Prozentzahl wäre also hier 13% in Buchstaben DREIZEHN Prozent – wie sagt man so schön auf französisch – 2 poids, 2 mesures

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