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Als Belgier unter deutschen Weltmeistern: Wie ich vor 30 Jahren die Fußball-WM in Italien erlebte [VIDEO]

08.07.1990, Italien, Rom: Die deutsche Mannschaft jubelt über den Gewinn der Fußball-WM im Olympiastadion von Rom. Von links: Andreas Brehme, Pierre Littbarski, Jürgen Klinsmann, Bodo Illgner und Jürgen Kohler (beide Hintergrund), Rudi Völler, Thomas Häßler, Guido Buchwald und Thomas Berthold. Foto: Frank Kleefeldt/dpa

Heute vor genau 30 Jahren, am 8. Juli 1990, fand in Rom das Endspiel der Fußball-WM 1990 in Italien statt. Deutschland besiegte Argentinien 1:0 und wurde zum dritten Mal Weltmeister. In einem Erlebnisbericht schildert Gerard Cremer, heute Herausgeber von „Ostbelgien Direkt“ und damals Korrespondent in Rom, einige der nicht nur aus deutscher Sicht magischen Momente dieses Turniers, bei dem Belgien höchst unglücklich und unverdient im Achtelfinale gegen England ausschied.

Jeder Journalist, der von Kindesalter an ein Fußballfan ist, träumt davon, wenigstens einmal eine Fußball-Weltmeisterschaft live vor Ort zu erleben. Für mich war dies 1990 bei der WM in Italien der Fall.

Das Turnier, das heute auf den Tag genau vor 30 Jahren, am 8. Juli 1990, mit dem Finale zwischen Deutschland und Argentinien zu Ende ging, bleibt für mich ein unvergessliches Erlebnis.

Seit September 1989 arbeitete ich in Rom als Korrespondent und berichtete teils über das politische Geschehen in Italien für die „Dolomiten-Zeitung“ in Bozen (Südtirol), teils über den Sport und speziell über die Fußball-WM 1990 für den Sport-Informationsdienst (sid), der damals noch seinen Sitz in Neuss bei Düsseldorf hatte.

Das Stadion Giuseppe Meazza (San Siro) in Mailand. Foto: Shutterstock

Schon einige Monate vor dem Start der Fußball-WM 1990 war der sid an Vorberichten aus Italien brennend interessiert, zumal in der Serie A zu jener Zeit einige gestandene deutsche Nationalspieler kickten wie Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann bei Inter Mailand oder auch Rudi Völler und Thomas Berthold beim AS Rom.

Berichtet habe ich über sämtliche Vorbereitungen auf die WM, und weil sich auch Belgien für das Turnier qualifiziert hatte und als Vierter der WM 1986 in Mexiko bei der Auslosung im Dezember 1989 automatisch gesetzt war, berichtete ich darüber hinaus fürs Grenz-Echo über alles, was mit den Roten Teufeln zu tun hatte.

Meeuws nur bei der Auslosung Trainer der Roten Teufel

Der erste Höhepunkt war natürlich die Gruppenauslosung am 9. Dezember 1989 im Sportpalast von Rom. Gianna Nannini und Edoardo Bennato sangen auf der Bühne die WM-Hymne „Un’ Estate Italiana“ (ein italienischer Sommer) – ein Ohrwurm, der auch nach 30 Jahren noch gefällt (siehe VIDEO unten).

Moderator war der bekannte italienische Showmaster Pippo Baudo. Die Organisation der Auslosungszeremonie lag in den Händen des FIFA-Generalsekretärs und späteren FIFA-Präsidenten Joseph Blatter.

26.06.1990, Italien, Bologna: Belgiens Jan Ceulemans (M) in Aktion zwischen zwei Engländern im Achtelfinalspiel in Bologna gegen England, das die Roten Teufel durch ein Gegentor von David Platt in der 119. Minute unglücklich und unverdient verloren. Foto: Belga

Damals gab es noch kein Internet. Jedes Mal, wenn eine Mannschaft aus der Loskugel gezogen wurde, rief sid-Fußballchef Franz-Josef Gribs, den wir alle „Jupp“ nannten, nach Neuss an, um den Namen der ausgelosten Mannschaft mitzuteilen, obwohl die Kollegen vom sid in Deutschland alles am Fernsehen mitverfolgen konnten. Aber eine Agentur verlässt sich eben nicht auf Fernsehbilder, sie ist ihre eigene Quelle.

Deutschland spielte in einer Gruppe mit Jugoslawien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kolumbien. Belgien bekam Südkorea, Uruguay und Spanien zugelost.

Zu diesem Zeitpunkt war noch Walter Meeuws belgischer Nationaltrainer. Guy Thys war nur noch Berater und verfolgte die Auslosung eher aus der Distanz. Man sah ihn einige Male im Jolly Hotel Midas am Stadtrand von Rom an einer Bar beim Glas Whiskey.

Noch ahnte niemand, dass bis zum WM-Start Thys wieder Trainer der Roten Teufel sein würde, weil Meeuws in der Vorbereitung nicht überzeugt hatte. Belgien hatte zwei Testspiele in Griechenland und gegen Schweden verloren. Dann zog der Verband die Reißleine und bat Thys, der Belgien 1986 auf den 4. Platz geführt hatte, die Mannschaft bis zum Ende der WM 1990 zu übernehmen, was er auch tat.

Deutschland in Mailand und Belgien in Verona

Ursprünglich sollte die Belgien-Gruppe in Mailand und die von Deutschland in Verona spielen. Später wurden die Austragungsorte jedoch getauscht, weil das Stadion von Mailand für Belgien zu groß und das von Verona für Deutschland zu klein war. Also spielte Belgien in Verona und Deutschland in Mailand.

Schon Monate vor dem Eröffnungsspiel bekam ich vom sid gesagt, dass ich zumindest die erste Phase der WM im Pressezentrum in Mailand verbringen sollte.

24.06.1990, Italien, Mailand: Der Niederländer Frank Rijkaard (r) bespuckt Rudi Völler im Mailänder Meazza-Stadion beim WM-Spiel Holland gegen Deutschland, nachdem sie nach einem Foulspiel gemeinsam vom Platz gestellt wurden. Foto: Martina_Hellmann/dpa

Also flog ich Anfang Juni 1990, wenige Tage vor dem WM-Start, von Rom nach Mailand, wo ich die ersten drei Wochen im Büro des sid im Pressezentrum des Stadions Giuseppe Meazza, auch San Siro genannt, verbrachte. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich von Mailand aus den Zug nach Verona nehmen konnte, um im Stadio Bentegodi zwei der drei Gruppenspiele der belgischen Nationalmannschaft zu verfolgen: gegen Südkorea (2:0) und gegen Spanien (1:2).

Zu jener Zeit waren die Sicherheitsvorkehrungen längst nicht so streng wie heute. Kleines Detail am Rande: Während des Turniers konnte ich sogar den Präsidenten des belgischen Fußballverbandes, Michel D‘Hooghe, oder den Generalsekretär Alain Courtois im Mannschaftshotel der Roten Teufel anrufen, um sie um eine Reaktion oder Stellungnahme zu bitten. Das wäre heute undenkbar. 1990 war das noch möglich.

Eine weitere Erkenntnis, die ich damals gewonnen habe: Als Journalist vor Ort erfährst du – erst recht ohne Internet, das es damals noch nicht gab – über die WM im Allgemeinen viel weniger als das, was du als Fußballfan zu Hause vor dem Fernseher mitbekommst.

Der Fan zu Hause weiß oft mehr als der Journalist vor Ort

Das mag kein Journalist eingestehen, aber es ist tatsächlich so – vor allem in der Gruppenphase, wenn oft drei Spiele am Tag stattfinden. Denn während der Fußballfan zu Hause jedes Spiel schaut, musst du als Reporter vor Ort nach dem Spiel noch Stimmen einfangen oder einen Nachbericht schreiben. Du bist total gestresst. Und wenn das alles geschafft ist, hat das nächste Spiel schon längst begonnen.

Außerdem knurrt dein Magen. Du gehst mit einigen Kollegen etwas essen, und beim Nachtisch wurde bereits das dritte Spiel angepfiffen. Wenn du Glück hast, bekommst du bei deiner Rückkehr im Hotel noch die zweite Halbzeit dieser letzten Begegnung mit. Vor allem aber bist du fix und fertig.

Das Stadio Olimpico in Rom, wo am 8. Juli 1990 das WM-Endspiel zwischen Deutschland und Argentinien stattfand. Foto: Shutterstock

Um trotzdem auf dem Laufenden zu bleiben, besuchten die deutschen Journalisten tagsüber eines der beiden Büros des sid im Pressezentrum in Mailand oder Rom, um einzelne Agenturmeldungen zu lesen, welche im Übrigen auch ihre Kollegen in Deutschland per Ticker zugestellt bekamen. Sie schrieben dann zwar „Von unserem Mitarbeiter aus Mailand“, viele Infos hatten sie aber den Agenturen entnommen, die sie genauso daheim hätten lesen können. Auch im Journalismus wird mitunter etwas geblufft…

Inmitten der damals noch überschaubaren Gruppe von deutschen Sportjournalisten nannten viele Kollegen mich einfach „den Belgier“, weil ich tatsächlich der einzige Belgier in der Runde war.

Engeren Kontakt hatte ich mit Rudi Michel, dem bekannten deutschen Fernsehreporter, der schon das Endspiel der Fußball-WM 1966 in England mit dem berühmten Wembley-Tor kommentiert hatte („Tor, nein, kein Tor!“) und diese Endrunde 1990 in Italien als Rentner und Kolumnist diverser Zeitungen verfolgte.

Rudi Michel vor einem Besuch bei Karl-Heinz Schnellinger

Eines Morgens saß Michel mir am Frühstückstisch in dem Mailänder Hotel, in dem wir untergebracht waren, mit leuchtenden Augen gegenüber und sagte in freudiger Erwartung: „Heute gehe ich Karl-Heinz Schnellinger besuchen!“

Der frühere deutsche Nationalspieler Karl-Heinz Schnellinger spielte in den 1960er und 1970er Jahren beim AC Milan und lebt auch seit dem Ende seiner aktiven Laufbahn weiter in der Nähe von Mailand.

Insgesamt habe ich bei dieser WM in Italien neun Spiele live im Stadion gesehen, was allein schon von der Atmosphäre her ein unvergessliches Erlebnis war:

  • 08. Juni 1990: Argentinien – Kamerun 0:1 (Mailand, Eröffnungsspiel)
  • 10. Juni 1990: Deutschland – Jugoslawien 4:1 (Mailand, Gruppenspiel)
  • 12. Juni 1990: Belgien – Südkorea 2:0 (Verona, Gruppenspiel)
  • 15. Juni 1990: Deutschland – V.A. Emirate 5:1 (Mailand, Gruppenspiel)
  • 17. Juni 1990: Belgien – Spanien 1:2 (Verona, Gruppenspiel)
  • 19. Juni 1990: Deutschland – Kolumbien 1:1 (Mailand, Gruppenspiel)
  • 24. Juni 1990: Deutschland – Niederlande 2:1 (Mailand, Achtelfinale)
  • 30. Juni 1990: Irland – Italien 0:1 (Rom, Viertelfinale)
  • 08. Juli 1990: Argentinien – Deutschland 0:1 (Rom, Finale)

08.07.1990, Italien, Rom: Die deutschen Fußball-Nationspieler Andreas Brehme (l) und Jürgen Klinsmann laufen jubelnd über das Spielfeld des Olympiastadions von Rom, nachdem Brehme per Elfmeter zum 1:0-Führungstreffer für Deutschland verwandelt hat. Foto: Frank Kleefeldt/dpa

In Erinnerung geblieben sind mir neben den zwei Spielen der Belgier, die ich nicht nur als Journalist, sondern auch als Fan der Roten Teufel verfolgte, vor allem das Eröffnungsspiel zwischen Titelverteidiger Argentinien und Kamerun, zumal der Außenseiter aus Afrika gewann, das Achtelfinale zwischen Deutschland und Holland (mit dem ebenso berühmten wie ekelhaften Spuck-Angriff von Frank Rijkaard auf Rudi Völler und dem anschließendem Doppel-Platzverweis) sowie natürlich das Endspiel am 8. Juli – vor genau 30 Jahren – im Stadio Olimpico von Rom zwischen Argentinien und Deutschland.

Beim Schlusspfiff des Finales waren natürlich die deutschen Presseleute um mich herum total aufgedreht. Ein Radioreporter direkt hinter mir machte es wie 1954 beim „Wunder von Bern“ Herbert Zimmermann und schrie in sein Mikrofon: „Aus, aus, aus – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister!“

Obwohl ich für eine deutsche Sportagentur arbeitete, taten mir nach dem Schlusspfiff des Endspiels erst einmal die Argentinier leid, denn zumindest von meinem Platz in der Pressetribüne aus hatte ich den Eindruck, dass der spielentscheidende Elfmeter in der 85. Minute, den Andreas Brehme verwandelte, nicht berechtigt war. Und noch am gestrigen Dienstag sagte der Sportreporter Marcel Reif in der „Bild“-Reihe „Reif ist live“, mit dem Videoassistenten (VAR) von heute wäre der Strafstoß für Deutschland kurz vor Schluss wohl nie gegeben worden.

Franz Beckenbauer im Überschwang der Gefühle

Bedauerlich aus belgischer Sicht war das frühe Ausscheiden der Roten Teufel im Achtelfinale gegen England durch einen Kunstschuss von David Platt in der 119. Spielminute. Das tat weh und war auch unverdient. Beobachter waren sich darin enig, dass die belgische Mannschaft von 1990 um einiges besser war als die von 1986, die Vierter wurde.

08.07.1990, Italien, Rom: Trainer Franz Beckenbauer steht an der Seitenlinie. Deutschland gewann das WM-Finale mit 1:0 gegen den Argentinien. Foto: Frank Leonhardt/dpa

Zum Abschluss dieser für mich so beeindruckenden WM in Italien sind mir die Worte des deutschen Teamchefs Franz Beckenbauer sofort nach dem Finale bei der Pressekonferenz im vollbesetzten Presseraum des Stadio Olimpico von Rom in Erinnerung geblieben. Im Überschwang der Gefühle erklärte Beckenbauer allen Ernstes: „Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein.“

Das sagte der „Kaiser“ nicht nur als Teamchef des frischgebackenen Weltmeisters, sondern auch vor dem Hintergrund des nach dieser WM auch im Fußball vereinten Deutschlands. Seinem Nachfolger Berti Vogts hatte Beckenbauer mit diesem Ausspruch gewiss keinen Gefallen getan.

Mir sollte das zu dem Zeitpunkt ziemlich egal sein. Die letzte Stunde dieses Finaltages vom 8. Juli 1990 verbrachte ich im Kreis einiger Franzosen, die eigens nach Rom gekommen waren, um sich für die französische Bewerbung um die Austragung der Fußball-WM 1998 in Frankreich stark zu machen. In diesem Moment schien mir 1998 noch Lichtjahre entfernt zu sein. Heute liegt das Endspiel von Rom schon 30 Jahre zurück. Meine Güte, wie die Zeit vergeht… GERARD CREMER


Nachfolgend im VIDEO die WM-Hymne von 1990 „Un’ Estate Italiana“ mit Gianna Nannini und Edoardo Bennato:

https://twitter.com/oldfootball11/status/974731113917755398?s=21

https://twitter.com/oldfootball11/status/707450351578976257?s=21

https://twitter.com/oldfootball11/status/1014749723742400512?s=21

10 Antworten auf “Als Belgier unter deutschen Weltmeistern: Wie ich vor 30 Jahren die Fußball-WM in Italien erlebte [VIDEO]”

  1. Neben Deutschland spielte damals Italien den attraktivsten Fußball. Belgien schied seinerzeit recht unglücklich gegen England aus. Ansonsten wäre das Halbfinale nach 1986 erneut möglich gewesen.

  2. peter Müller

    In dem Jahr, waren wir auf einem Camping mit unseren Kindern. am Gardasee. Der Camping war fest in der Hand, von zwei Nationen mit den Farben Gelb ,Rot, Schwarz. Niederländer waren auch viele da. Jede Zweite Familie hatte ein TV Gerät dabei. Stimmung auf dem ganzen Camping, und natürlich auch Gegenseitige spassige Beleidigungen während den Übertragungen. Je nach Ergebniss, gab es einen Fussgängercorso auf dem Camping, oder auch ausserhalb vom Camping mit dem Auto. Da es nur eine Strasse um den See gibt, war Chaos angesagt.
    Werden wir nie vergessen.

  3. Das Foul das zum Tor der Engländer führte hätte ich auch nicht gegeben, war schon sehr fragwürdig. Wir waren besser als die Engländer und dann so Witzfoul so kurz vor Schluss…

    Ich war damals ja auch nicht unparteiisch.

  4. Damals war ich 18 Jahre alt und voller Begeisterung für die DFB Elf. Diese hat dann auch zurecht gewonnen. Meine Mutter hat mir noch eine Deutschlandfahne genäht und diese wehte dann über Eupen. Heute verkneif ich mir sowas, man wird ja mit dem Alter weise:)))

    • Ein Fähnchen im Wind

      Diese Deutschlandfahne haben Sie dann erst bei der letzten WM in eine belgische Fahne umnähen lassen.
      Aber erst nachdem Deutschland ausgeschieden war. Jetzt zurecht.
      Das Internet vergisst nichts.

  5. Tja der Wind dreht halt ab und zu…
    Vielleicht ist für uns Belgier in einigen Jahren wieder Schluss mit Lustig, wenn die goldene Generation in Rente geht. Es ist jetzt oder nie für sich das Sternchen zu verdienen. :)
    Dagegen bin ich sicher das die Deutschen demnächst wieder Fußballerischen oben dabei sind.
    Den wie sagte der Lineker: Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans always win….

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