Nachrichten

Steinmeiers bemerkenswerte Weihnachtsansprache: Deutscher Präsident ruft zum „demokratischen Streit“ auf

20.12.2018, Berlin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht nach der Aufzeichnung der traditionellen Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue vor einem geschmückten Weihnachtsbaum. Foto: Annegret Hilse/Reuters/Pool/dpa

Normalerweise geht „Ostbelgien Direkt“ an Heiligabend nur auf die Weihnachts-Ansprache von König Philippe ein (siehe Artikel an anderer Stelle). In diesem Jahr machen wir eine Ausnahme und befassen uns auch ausführlich mit der Ansprache des deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier, denn diese ist bemerkenswert, weil sie eine Zäsur darstellt in der Rhetorik der sogenannten etablierten Politik.

Statt zum wiederholten Mal gegen Populismus zu wettern, so wie es seit Jahren eigentlich alle tun, ruft Steinmeier zum „demokratischen Streit“ auf und fordert, dass man heute in einer Demokratie „Unterschiede aushalten“ müsse.

„Unsere Demokratie ist immer so stark, wie wir sie machen. Sie baut darauf, dass wir unsere Meinung sagen, für unsere Interessen streiten. Und sie setzt uns der ständigen Gefahr aus, dass auch der andere mal Recht haben könnte“, sagte das deutsche Staatsoberhaupt in seiner Weihnachtsansprache. „Die Fähigkeit zum Kompromiss ist die Stärke der Demokratie.“

Protestaktion der „Gelbwesten“ in Frankreich. „Deutschland ist gegen solche Entwicklungen nicht geschützt“, mahnte Steinmeier. Foto: Chen Yichen/XinHua/dpa

Die Deutschen sprächen immer seltener miteinander und hörten noch seltener einander zu. „Wo immer man hinschaut, erst recht in den Sozialen Medien: Da wird gegiftet, da ist Lärm und tägliche Empörung“, sagte er. „Mehr noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen anderen.“

Immer mehr Menschen zögen sich zurück unter ihresgleichen, in die eigene Wahrnehmungsblase, in der alle einer Meinung seien – auch darüber, wer dazugehöre. „Nur, so sehr wir uns über andere ärgern oder sie uns gleich ganz wegwünschen, eines gilt auch morgen noch: Wir alle gehören zu diesem Land – unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, von Lebensanschauung oder Lieblingsmannschaft“, mahnte der Bundespräsident.

„Wir müssen wieder lernen zu streiten, ohne Schaum vorm Mund, und lernen, unsere Unterschiede auszuhalten.“ Wer Streit habe, könne sich auch wieder zusammenraufen, sagte Steinmeier. „Aber wer gar nicht spricht und erst recht nicht zuhört, kommt Lösungen kein Stück näher. Sprachlosigkeit heißt Stillstand.“

„Da wird gegiftet, da ist Lärm und tägliche Empörung“, beklagt Frank-Walter Steinmeier. Foto: Shutterstock

Steinmeier forderte die Menschen auf, Auseinandersetzungen bewusst zu suchen: „Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!“ Das sei auch sein Vorsatz für das kommende Jahr. Die Gesellschaft solle mit sich im Gespräch bleiben.

Was sonst passieren könnte, zeige sich in anderen Ländern: „Wir haben brennende Barrikaden in Paris erlebt, tiefe politische Gräben in den USA, Sorgen in Großbritannien vor dem Brexit, Zerreißproben für Europa in Ungarn, Italien und anderswo.“ Deutschland sei gegen solche Entwicklungen nicht geschützt, mahnte Steinmeier. „Auch bei uns im Land gibt es Ungewissheit, gibt es Ängste, gibt es Wut.“

Als Bundespräsident erfahre er jeden Tag, dass die Demokratie stark sei, sagte der 62-Jährige. Wer sich engagiere, etwa in der Nachbarschaft, in Vereinen oder im Stadtrat, trage zu dieser Stärke bei. Steinmeier dankte allen, die an Heiligabend Dienst tun – „in Krankenhäusern oder Polizeiwachen, bei der Feuerwehr oder im Altenheim, im In- und im Ausland“ – und resümierte: „Ich bin zuversichtlich für das, was kommt im nächsten Jahr. Und Zuversicht wünsche ich auch Ihnen ganz persönlich.“ (dpa/cre)

Zum Thema siehe auch folgenden Artikel auf OD:

6 Antworten auf “Steinmeiers bemerkenswerte Weihnachtsansprache: Deutscher Präsident ruft zum „demokratischen Streit“ auf”

  1. Ein kluger Mann auf dem Präsidentenstuhl unseres Nachbarn. Das Zugehen auf alle Teile seines Volkes gehört zu seinem Amt. Von daher äußert es sich vollkommen richtig. Trotzdem steht er in allen anderen Äußerungen im Rest des Jahres ganz klar gegen Populismus. und das ist gut so!

Antworten

Impressum Datenschutzerklärung
Desktop Version anfordern