Politik

Fragen & Antworten zum Brexit: Wie geht‘s jetzt weiter? – Risiko eines chaotischen EU-Austritts wächst

30.01.2019, Belgien, Brüssel: Michel Barnier (l), der Chefunterhändler der Europäischen Union, und Guy Verhofstadt, Brexit-Koordinator des Europäischen Parlaments, nehmen an einer Sitzung der Brexit-Lenkungsgruppe im Europäischen Parlament teil. Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP/dpa

AKTUALISIERT – Es sind noch weniger als 60 Tage bis zum Brexit-Tag. Doch London und Brüssel beharren immer noch auf unvereinbaren Positionen. Welche Möglichkeiten bleiben?

Es war ein Kraftakt. Endlich hat eine Mehrheit im britischen Parlament Premierministerin Theresa May im Brexit-Streit den Rücken gestärkt und ein klares Mandat erteilt. Die Regierungschefin soll zurück nach Brüssel, die Europäische Union von Änderungen im Austrittsvertrag überzeugen und dann am 29. März doch noch einen geregelten EU-Austritt zuwege bekommen.

Soweit die Theorie. Denn die britischen Beschlüsse haben einen entscheidenden Haken: Die EU schließt die verlangten Änderungen aus. Zwei Monate vor dem Brexit wird die Furcht vor einem chaotischen Bruch immer größer. Nachfolgend wichtigsten Fragen und Antworten:

– Was genau hat das Unterhaus beschlossen?

Eine knappe Mehrheit von 317 zu 301 Stimmen billigte einen Antrag des einflussreichen konservativen Hinterbänklers Graham Brady. Dieser fordert, dass die von der EU verlangte Garantie für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland aus dem Brexit-Abkommen entfernt wird.

26.01.2019, Nordirland, Newry: Demonstranten halten Plakate an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland hoch, um gegen zukünftige Grenzkontrollen zu protestieren. Sie fürchten, dass der EU-Austritt Großbritanniens wieder zu einer festen Grenze führen und alte Konflikte in der Region anfachen könnte. Foto: Peter Morrison/AP/dpa

Der sogenannte Backstop sieht vor, dass ganz Großbritannien in der Zollunion mit der EU bleibt und Nordirland zudem teilweise im EU-Binnenmarkt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Stattdessen will Brady „alternative Regelungen“ im Austrittsabkommen. Premierministerin May hatte sich hinter diesen Antrag gestellt und betont, sie wolle mit einem möglichst klaren Mandat nach Brüssel zurückkehren und das Abkommen noch einmal aufschnüren.

– Was soll das bewirken?

Mit den Nachverhandlungen will May letztlich das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen retten. Denn vor zwei Wochen hatte das Unterhaus den Deal krachend niedergestimmt. Nach der Abstimmung vom Dienstag hält May für erwiesen: Wenn nur der Backstop geändert würde, würde das Parlament das Brexit-Abkommen ratifizieren. Dann wäre ein geregelter Austritt gesichert, schlimme Folgen für die Wirtschaft und große Unsicherheit für die Bürger wären abgewendet und man könnte wie geplant in einer knapp zweijährigen Übergangsfrist die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien regeln.

– Wird Brüssel das mitmachen?

Nein – so hatten es die 27 bleibenden Staaten schon im Dezember beschlossen und genau diese Position bekräftigten sie unmittelbar nach den Entscheidungen in London. Der Backstop könne nicht geändert werden, ließ EU-Ratspräsident Donald Tusk über einen Sprecher erklären. Denn vor allem das EU-Mitglied Irland will eine harte Grenze zum britischen Nordirland auf keinen Fall riskieren.

29.01.2019, Großbritannien, London: Das Videostandbild zeigt Theresa May (M), Premierministerin von Groflbritannien, die im britischen Parlament bei einer wichtigen Debatte über den umstrittenen Brexit spricht. Foto: Pa/PA Wire/dpa

Eine Teilung der Insel könnte neue politische Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion heraufbeschwören – ein Bombenanschlag im nordirischen Londonderry schien zuletzt wie ein düsterer Vorbote. Grenzkontrollen und Schlagbäume widersprächen zudem dem Karfreitagsabkommen von 1998, für das Großbritannien und die EU gemeinsam eine Garantie abgegeben haben.

– Beide Seiten beharren also auf unvereinbaren Positionen, und jetzt?

Das Risiko eines ungeordneten Brexits wächst weiter, denn nun sind es bis zum Austrittsdatum 29. März nur noch acht Wochen. Die stellvertretende EU-Unterhändlerin Sabine Weyand warnte schon vor der Londoner Abstimmung: „Es gibt ein sehr hohes Risiko eines (chaotischen) Bruchs, nicht nach einem bestimmten Plan, sondern aus Versehen.“ Auch Brexit-Experte Fabian Zuleeg von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre sagte: „Wir sind sehr nah dran, dass uns einfach die Zeit ausgeht.“

– Welche Optionen bleiben denn noch?

Die EU-Seite lässt sich eine Hintertür offen: Sie will zwar das 585 Seiten starke Austrittsabkommen mit dem Backstop nicht mehr anrühren, kann sich aber Änderungen an der «Politischen Erklärung» vorstellen, die zum Vertragspaket gehört und die die künftigen Beziehungen beider Seiten skizziert.

Bisher ist sie sehr vage. Würde Großbritannien aber bisherige Vorgaben fallen lassen und eine Zollunion oder sogar eine Anbindung an den EU-Binnenmarkt akzeptieren, wäre der Backstop praktisch erledigt. Man hätte eine dauerhafte Lösung für eine offene Grenze zwischen Irland und Nordirland. Allerdings lehnen das nicht nur die Brexit-Hardliner ab, auch für May kommt das nicht infrage. Für eine solche Kurskorrektur hat sie jetzt auch kein Mandat. Ein Labour-Antrag mit dem Ziel einer Zollunion fand im Unterhaus keine Mehrheit.

29.01.2019, Großbritannien, London: Pro-Brexit Demonstranten nehmen mit Schildern an einer Kundgebung in der Nähe des britischen Parlaments teil. Foto: Alastair Grant/AP/dpa

Spekuliert wird auch darüber, dass letztlich Irland der EU doch freie Hand lassen könnte, den Backstop aufzugeben. Denn ein Brexit ohne Vertrag könnte genau die Situation heraufbeschwören, die der Backstop verhindern soll: Grenzkontrollen an der neuen EU-Außengrenze.

– War nicht die Rede von einer Verschiebung des Brexits?

Die EU hält diesen Weg ausdrücklich offen. Würde Großbritannien einen Antrag auf Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge stellen, würde man dies erwägen und einstimmig entscheiden, ließ Tusk am Dienstagabend erklären. Allerdings fanden zwei Anträge mit eben diesem Ziel der Verschiebung des Austrittsdatums am Dienstag im britischen Parlament keine Mehrheit. Nicht ganz ausgeschlossen, dass sich das ändert, wenn der Tag X näher rückt. Letztlich könnte May noch bis unmittelbar vor dem Austrittsdatum den Antrag an die EU auch einseitig zurückziehen und so einem Chaos-Brexit entgehen.

Debattiert wird in London zudem der sogenannte Plan C: Großbritannien könnte vorerst weiter an die EU zahlen und sich dafür auch ohne das Austrittsabkommen eine Übergangsfrist erkaufen. Aber auch einen solchen „No-Deal-Deal“ schließt Brüssel bisher aus. (dpa)

22 Antworten auf “Fragen & Antworten zum Brexit: Wie geht‘s jetzt weiter? – Risiko eines chaotischen EU-Austritts wächst”

  1. Intipuca

    Wenn Mitglieder einer Gruppe einen Entschluss nicht wollen, dann polarisiert sich die Gruppe, oder torpediert den Entschluss. Nur der Narzißmus will, daß dies erst später eingesehen wird und letztlich enormen Stress/auch Geld kostet. Ein einfaches Beispiel: ein Pferdetrainer überlegte die ganze Woche ob das Pferd in Düsseldorf oder in Frankfurt laufen sollte. Der Galopper lief in Frankfurt nur hinterher. Nun der Trainer: jetzt weiss ich wo es laufen sollte, nämlich garnicht. Dies kann aber erst hinterher eingesehen werden.

  2. Zaungast

    „Sollte ihr Antrag angenommen werden, würde am 5. Februar im Schnelldurchlauf ein Gesetz durchs Parlament gepeitscht, das den Brexit-Tag vom 29. März auf den 31. Dezember 2019 verschiebt, sollte bis Ende Februar kein Brexit-Abkommen ratifiziert sein.“

    So einfach ist das im Grunde. Es genügt, dass die Briten einseitig per Gesetz das Datum des Brexits verschieben.
    Die Gegenseite braucht man da nicht erst groß zu fragen.

    • Die Gegenseite braucht man da nicht erst groß zu fragen.

      @ Zaungast

      Ich glaube Sie irren. GB hat den Antrag gestellt die EU verlassen zu können. Jetzt bleiben eigentlich nur zwei Optionen.
      Entweder es gibt den ungeordneten Brexit oder der Antrag wird zurückgezogen.
      In allen anderen Fällen müssten die anderen 27 EU Mitglieder zustimmen. Ich kann mir nicht vorstellen das einem „Noch-EU-Mitglied“ die Teilnahme an der Europawahl verweigert werden kann, andererseits die Akzeptanz von Abgeordneten deren Herkunftsland nicht mehr in der Union ist vorhanden ist.

      • Zaungast

        Wenn das Parlament einseitig per Gesetz beschließen sollte, das Datum des Brexits bis zum Jahresende zu verschieben, so wäre das ohne das einstimmige Einverständnis der anderen Länder völlig unwirksam.
        So steht es nämlich in Artikel 50.

        Wieso dieser Plan „ausgefuchst“ sein soll, erschließt sich wohl nur dem dpa-Journalisten, der den Beitrag verfasst hat.

        Was die Wahlen betrifft, so kann man sich schwer vorstellen, wie die in dem jetzt in GB herrschenden Klima organisiert werden könnten. Deshalb muss das ganze Theater eigentlich bis spätestens Ende April abgeschlossen sein. Ein Zeitgewinn von vier Wochen, der aber wahrscheinlich auch nichts bringen wird. Aber warten wir’s ab.

  3. ich frage mich, ob bedacht ist, das ein brexit auf ewig und dreitage gilt, da eine wiederaufnahme undenkbar ist (m.E)
    Folglich muss VOR dem endgültigen austritt die lange erwartete frage kommen: „Liebes europa, was gebt ihr uns denn, wenn wir drinbleiben?“

    • und genau DAS kann die EU gar nicht zulassen. Mitglied in der EU wirtschaft ist nicht beliebig und je nach tageslaune veränderbar. Heute rein-morgen raus-und wiedr rein wenn´s passt.
      RAUS ist raus und muss es bleiben. Einbahnstraße!!!
      Es hat also eine langzeitauswirkung und -auch- das muss von england bedacht sein. Inkl. der zukünftig (eventuell) wichtigeren frage der gemeinsamen anstrenungen zur verteidigung.

      • Walter Keutgen

        gast, „rein theoretisch“ habe ich geschrieben. Es ist auch praktisch keine Einbahnstraße. Nur ist es so, dass Großbritannien dann wie jeder Beitrittskandidat die Regeln umsetzen muss, bevor der Beitritt gültig wird (acquis communeautaire). Man wird Großbritannien dann wohl keine Ausnahmeregelungen zugestehen, unter anderem müsste es den Euro als Währung annehmen. Das wollen die Brexiter aber nicht und die sind nicht wenige.

  4. Also, verstehe wer verstehen mag.
    GB beschließt mittels Volksabstimmung: RAUS aus der EU.
    GB teilt offiziell mit, die EU zu verlassen.
    May und ihre Minister haben über 2 Jahre Zeit, die Sache zu regeln, auch auf der Insel.
    Es ist nun so, die Tante hat nichts geregelt und kommt rund 3 Monate vor dem Auistrittsdatum, und fängt an, intern die Sache zu regeln.
    Jetzt stellt GB fest, ach, wir würden doch gerne bleiben! Das Referendum zählt nicht mehr.
    Europa à la carte!
    Man bedenke, was dieses Theater an Millionen EUR verschlungen hat: administartive Arbeiten, Sitzungen, Gehälter, … (Wir zahlen ja unsere Steuern) und jetzt soll alles verbrannt werden, weil GB nicht will oder nicht kann oder oder oder.
    Eben à la carte: mal schmeckt es, mal nicht.
    Und da soll man noch wählen gehen.
    Wenn das Schule macht, werden andere Länder ja mal auch soeben nachziehen. Man kann ja in letzter Minute immer noch zurückziehen. Alaaf.

  5. Walter Keutgen

    Nobody, „Jetzt stellt GB fest, ach, wir würden doch gerne bleiben! Das Referendum zählt nicht mehr“. Ich denke, das ist nur die Meinung einer zwar beträchtlichen Minderheit der britischen Politiker. Die Bruchlinie geht durch das ganze britische Volk und quer durch die bestehenden Parteien. Ich denke, Großbritannien wird einen Aufschub bis zum Einsatz des neuen EU-Parlaments kriegen.

    Was den Backstop angeht, würde Sturhaftigkeit seitens Irlands nur zu einem harten Brexit führen. Allerdings würde dann ein durch die EU und Großbritannien garantiertes Abkommen zwischen der Republik Irland und Nordirland verletzt. Übrigens der vermutlich einzige Fall, in dem die EG für den Frieden tätig war. Im Balkankrieg hat sie kläglich versagt, ein Glück, dass es die USA-NATO gab. Vielleicht sollten die EU, Iren und Engländer mal den Status des Saarlandes nach dem zweiten Weltkrieg studieren.

    • Zaungast

      „Vielleicht sollten die EU, Iren und Engländer mal den Status des Saarlandes nach dem zweiten Weltkrieg studieren.“

      Was hätte denn da Vorbildcharakter und wäre auf die heutige Situation so ohne Weiteres übertragbar?

      Gab es an der Saar einen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten mit über 3500 Toten?

      • Walter Keutgen

        Zaungast, die Waren- und Personenkontrollen waren eine Zeit lang entkoppelt. Als Autonarr weiß ich, dass noch in den 60-er vielleicht 701-er Jahren jemand der in Deutschland ein französisches Auto kaufen wollten ein paar hundert D-Mark sparen konnte, wenn er es im Saarland kaufte.

        Also, die Iren wollen keine Personenkontrollen an der inneririschen Grenze, Großbritannien will vielleicht welche, die EU und Großbritannien wollen Warenkontrollen. Für die Einwanderung nach Großbritannien können ja die gleichen Regeln gelten wie anfangs im Schengenraum, keine Kontrollen aber … und die Seegrenze Irlands ist EU-Grenze. Eigentlich bliebe der heutige Status erhalten. Ich bezweifele, dass viel illegale Einwanderung nach Großbritannien über Irland läuft. Die Lastwagen kann man an der Grenze dann kontrollieren und die Waren müssen verzollt werden.

  6. EU-Kritiker

    Bei allem Verständnis für die Brexit-Gegner hier im Forum : wenn die Briten draußen sind, fehlen der EU so um die 10-12 Milliarden pro Jahr, welche GB als Nettozahler geleistet hatte. Und diesen Betrag werden die anderen EU-Länder dann aufbringen müssen.

    • Walter Keutgen

      EU-Kritiker, darum geht es ja hauptsächlich im Austrittsabkommen, um eine Übergangsregelung über ein paar Jahre, wo Großbritannien seine Beiträge weiter bezahlt, das Geld für die Pensionen britischer EU-Beamter und für die Kontinental-EU-Bürger die in Großbritannien leben und umgekehrt. Barnier hat sorgsam nur Austrittsverhandlungen, was danach komme, werde danach verhandelt.

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