Am 15. Dezember 1995 stellte ein bis dahin unbekannter belgischer Profi das System Fußball auf den Kopf. Das Bosman-Urteil machte viele Menschen reich, ließ den Lütticher selbst aber verbittert zurück.
Kurz vor dem 25. Jahrestag bekommt Jean-Marc Bosman mal wieder Besuch von einem Fernsehteam. Der frühere Profi David Ginola steht bei ihm in Lüttich auf der Matte und will wissen, wie es Bosman denn so geht, ein Vierteljahrhundert nach dem nach ihm benannten Urteil, das den Fußball wie eine seismische Schockwelle erfasst hatte.
Die Plauderei beginnt am Esstisch, und am Ende eines Streifzugs durch ein zuerst erfülltes und dann tragisches Leben steht eine verbitterte Bilanz.
„Jeder kennt die Bosman-Regel, aber keiner kennt den Mann dahinter“, sagt Bosman. „Ich bin ein Mann ohne Gesicht.“
Es geht dem rundlichen 56-Jährigen vor allem um Anerkennung für das, was er an jenem 15. Dezember 1995 vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg erstritten hat. „Ich wünsche mir Wertschätzung. Es gibt Menschen, die nicht gekauft werden können. Ich zählte dazu. Ich habe einen hohen Preis bezahlt, hatte ein chaotisches Leben“, sagt Bosman. Es gebe Menschen, die nicht einfach alles akzeptieren, die Charakter haben.
Was Bosman nicht akzeptieren wollte, geschah im Sommer 1990. Sein Vertrag beim damaligen belgischen Pokalsieger RFC Lüttich war ausgelaufen, er wollte nach Frankreich wechseln, zum Zweitligisten Dünkirchen.
Ein solides Engagement. Doch der RFC ließ ihn nicht einfach so gehen, forderte eine Ablöse von umgerechnet 300.000 Euro. Also klagte Bosman. Er wollte den Fußball nicht revolutionieren. Er wollte nur spielen. Doch getrieben von der eigenen Sturheit und dem Ehrgeiz seiner Anwälte, zog er bis zur höchsten Instanz.
Lineker: „Er hat den Spielern die Macht zurückgegeben“
Die Richter stellten die Fußballwelt schließlich überraschend auf den Kopf. Ablösesummen für vertragslose Spieler wurden abgeschafft. Die Ausländerbeschränkung pro Mannschaft wurde gekippt. Es galt für Fußballer plötzlich, was in der EU für alle Arbeitnehmer galt: das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes.
Einer der ersten Profiteure des Bosman-Urteils war der Schotte Paul Lambert. „Mein Vertrag in Motherwell lief damals aus, und ein Berater rief mich an“, berichtet Lambert. „Er sagte mir, er habe zwei Vereine für mich: PSV Eindhoven und Borussia Dortmund.“
Nach einem Probetraining unterschrieb der kernige Abräumer aus Glasgow im Sommer 1996 beim BVB. Und gewann zehn Monate später die Champions League. „Ohne Bosman wäre das nicht passiert.“
Bosman machte viele Menschen reich. Clubs verlängern Verträge mit Spielern heute vorzeitig, Profis und die schier grenzenlos mächtigen Berater kassieren höhere Gehälter und satte Provisionen. Wechselt ein halbwegs solider Spieler den Verein, werden bisweilen surreale Ablösesummen gezahlt.
“Er hat den Spielern die Macht zurückgegeben. Das war enorm wichtig“, sagt Gary Lineker. Die Meinung des englischen Idols hat sich dabei um 180 Grad gedreht, befürchtete er doch kurz vor dem Urteil noch das Aus für viele kleine Clubs.
Auch Bosman kassierte zunächst. Durch Entschädigungen und Zuwendungen sammelte er gut eine Million Euro ein. Trotzdem fand er keinen Club mehr, er galt als Verräter. Also kaufte er sich zwei Häuser, zwei Sportwagen, genoss das Leben – und verfiel dem Alkohol.
“Mein Ziel war es, dass ich zu keiner Zeit über irgendetwas nachdenken musste“, erzählt Bosman über seine Trunksucht. „Ich hatte viele emotionale Narben. Man braucht Nerven aus Stahl, um das zu überleben.“
Er überlebte. Irgendwie. Zweimal ließ er sich scheiden. Er bekam die Sucht in den Griff, überwand eine schwere Depression und kämpfte sich aus der Verschuldung, denn zwischendurch hatte sich auch das Finanzamt gemeldet. Zurück blieb ein gebrochener Mensch.
Das merkt auch Ginola. „Ich habe einen Mann erlebt, der seinen Glauben verloren hat. Einen zerstörten Menschen“, sagt der frühere französische Nationalspieler. „Es überrascht mich, dass niemand ihn umarmt und sich bedankt. Es wäre das Mindeste, was man tun kann.“
Gedanken um das Urteil mit seinem Namen und die Folgen macht sich Bosman immer noch. Seiner Meinung nach sollte das System erneut geändert werden, um die Spirale von irrsinnigen Gehältern, Handgeldern und Ablösesummen zu durchbrechen.
“Es müsste eine Gehaltsobergrenze geben. Das würde die Clubs und das Transfersystem ausbalancieren“, sagt Bosman. Zudem regt er das aus dem US-Sport bekannte Draft-System an. Es soll weder Auf- noch Abstieg geben, das schlechteste Team könne sich als erstes Spieler aussuchen. Das sind aber nur Ideen. Vor Gericht würde Bosman nicht mehr ziehen. (dpa)
Everyone knows the Bosman rule, but nobody knows Jean-Marc Bosman, the man, the footballer.
Jean-Marc changed football, 25 years ago.Watch the premiere “Bosman – The Player Who Changed Football” exclusively on @BTSport 1 HD 📺, tonight 22:15 pic.twitter.com/BMOV70aljw
— David Ginola (@teamginola) December 9, 2020
Das zeigt wieder einmal den Unterschied zwischen Recht und Gerecht.
Bosman machte viele reich, stimmt.
Bosman machte sich selber arm, stimmt auch.