Gesellschaft

„Für neuen Kugelschreiber Formular in fünf Durchschlägen mit Begründung nach Brüssel“

Gerichtspräsident Rolf Lennertz beim Interview mit dem BRF. Foto: OD

Als am Donnerstag Justizministerin Annemie Turtelboom (Open VLD) als erster belgischer Justizminister überhaupt den Eupener Gerichtsbezirk besuchte, bekam sie von den Verantwortlichen der ostbelgischen Gerichtsbarkeit einiges an Klagen zu hören. Woran es konkret hapert, erläutert Gerichtspräsident Rolf Lennertz in einem Interview mit „Ostbelgien Direkt“.

In diesem Jahr feiert der Gerichtsbezirk Eupen sein 25-jähriges Bestehen. Seine Gründung im September 1988 war ein Meilenstein in der Geschichte des Gebiets deutscher Sprache.

Ein Vierteljahrhundert später jedoch haben sich viele Probleme angehäuft, wie bei dem Treffen am Donnerstag mit Ministerin Turtelboom deutlich wurde. Darüber unterhielt sich „Ostbelgien Direkt“ mit dem Präsidenten des Gerichts Erster Instanz in Eupen, Rolf Lennertz.

Erhöhter Einsatz des Justizpersonals

OD: Herr Gerichtspräsident, der Gerichtsbezirk Eupen feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Wenn man Ihnen und Ihren Kollegen beim Besuch der Justizministerin zugehört hat, hat man den Eindruck, die Zustände bei der Eupener Justiz seien katastrophal. Ist dem so?

Die Verantwortlichen der Eupener Justiz hatten der Ministerin einiges mitzuteilen. Foto: Gerd Comouth

Die Verantwortlichen der Eupener Justiz hatten der Ministerin einiges mitzuteilen. Foto: Gerd Comouth

Lennertz: Der Eindruck mag entstehen, ja. Aber es ist auch so, dass wenn man schon zum ersten Mal in 25 Jahren die Justizministerin hier in Eupen zu Besuch hat, dann trägt man ihr vor allem die Sorgen und Nöte vor und redet weniger über das, was funktioniert. Ich kann nur betonen, dass im Gerichtsbezirk Eupen die Justizbehörden sehr gut funktionieren. Allerdings funktionieren sie auch deshalb gut, weil das Personal – ich spreche nicht einmal vom leitenden Personal, sondern vor allem vom Personal an der Basis – viel mehr leistet, als man normalerweise erwarten könnte. In manchen Bereichen wurschteln wir uns durch und kompensieren die fehlende Infrastruktur durch erhöhten Einsatz. Das geht eine Zeitlang auch gut, das kann aber auf Dauer nicht so weitergehen.

OD: Wo liegen denn so die größten Probleme für die Eupener Justiz?

Lennertz: Das größte Problem ist die räumliche Unterbringung der Justizbehörden. Allein in Eupen sind sie an vier verschiedenen Standorten untergebracht. Alle vier Gerichtsstandorte sind eigentlich ungeeignet. Es gibt kein einziges Gebäude, das behindertengerecht ist. Einige Gebäude entsprechen nicht den elementarsten Sicherheitsanforderungen. Vor allen Dingen sind die Bürger verwirrt, weil sie nicht wissen, wohin sie sich begeben müssen. Das Ganze ist mit unnötigen Laufereien verbunden. An manchen Tagen finden Gerichtsverhandlungen sowohl an der Klötzerbahn als auch am Rathausplatz statt. Die Anwälte müssen hin- und herpendeln. So kann man nicht vernünftig arbeiten.

Informatiksystem aus dem Jahre 1985

OD: Jemand hat beim Treffen mit Ministerin Turtelboom gesagt, es herrschten bei der hiesigen Justiz „Zustände wie im Mittelalter“.

Justizministerin Annemie Turtelboom bei ihrem Besuch in Eupen. Foto: Gerd Comouth

Justizministerin Annemie Turtelboom bei ihrem Besuch in Eupen. Foto: Gerd Comouth

Lennertz: Was die Informatik angeht, kann man es tatsächlich so drastisch ausdrücken. Unser Informatiksystem stammt aus dem Jahre 1985. Es ist inzwischen so alt, dass es nicht einmal mehr gewartet werden kann, weil sich niemand mehr damit auskennt. Es sind im Laufe der Jahre von der Justiz immer wieder neue Informatikprogramme angeschafft worden, jedoch hat man immer vergessen, sie auch in deutscher Sprache zu bestellen. Bei uns kann man nicht mit Programmen arbeiten, die nur französischsprachige Texte produzieren.

OD: Es gibt offenbar auch Personalprobleme.

Lennertz: Die gibt es auch. Das liegt auch daran, dass sowohl für Richter als auch für Greffiers die Anwerbungsprüfungen bis vor kurzem in Französisch abgehalten wurden. Es müsste eine viel aktivere Anwerbungs- und Personalpolitik betrieben werden, die auch viel mehr auf die Anforderungen des Gerichtsbezirks Eupen ausgerichtet ist. Das können wir aber nicht hier vor Ort machen. Das läuft alles zentral über Brüssel.

Justizreform Schritt in die richtige Richtung

OD: Jetzt ist eine Justizreform im Anmarsch. Was beinhaltet diese Reform im Wesentlichen, und was erhoffen Sie sich davon?

Wenn sich schon zum ersten Mal überhaupt ein Justizminister nach Eupen bemüht, will man auch dabei sein. Foto: Gerd Comouth

Wenn sich schon zum ersten Mal überhaupt ein Justizminister nach Eupen bemüht, will man auch dabei sein. Foto: Gerd Comouth

Lennertz: Die Reform beinhaltet, dass das gesamte Gerichtswesen rationalisiert wird. Statt 27 Gerichtsbezirken wird es nur noch deren 13 geben. Der Gerichtsbezirk Eupen bleibt bestehen, es kommt also nicht zu einer Verschmelzung mit Verviers und Huy. Innerhalb des Gerichtsbezirks soll es mehr Flexibilität geben. So werden zum Beispiel Arbeitsauditorate und Staatsanwaltschaft fusioniert. Es wird nur noch einen Gerichtspräsidenten geben, der zuständig sein wird für das Gericht Erster Instanz, das Handelsgericht und das Arbeitsgericht. Und das Personal aller Gerichte wird auch in den jeweils anderen Gerichten einsetzbar sein. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, zumal der Vorschlag von Frau Justizministerin vor allem beinhaltet, dass größere Gerichtsbezirke auch eine größere Eigenverantwortung und Selbstverwaltung erhalten.

OD: Haben Sie nicht das Gefühl, dass es im heutigen Belgien von großem Nachteil ist, wenn man als Behörde vom Zentralstaat abhängig ist?

Lennertz: Manche Dinge würden mit Sicherheit viel besser und einfacher direkt vor Ort erledigt. Ich würde es mal bewusst überspitzt so formulieren: Wenn wir einen neuen Kugelschreiber brauchen, müssen wir diesen auf einem Formular in fünf Durchschlägen in Brüssel beantragen und begründen, warum wir ihn brauchen. Das ist kein effizientes Management. (cre)

Hinweis: Große Hoffnungen setzt Eupen in das künftige Justizgebäude, doch dessen Realisierung ist eine ellenlange Geschichte, mit der sich „Ostbelgien Direkt“ demnächst in einem gesonderten Artikel befassen wird.

Siehe auch „Leute von heute“-Meldung „Annemie Turtelboom“

14 Antworten auf “„Für neuen Kugelschreiber Formular in fünf Durchschlägen mit Begründung nach Brüssel“”

  1. Eastwind

    Die Klagen der Justizbehörden in Eupen sind verständlich. Wenn ein Justizminister 25 Jahre braucht, um nach Eupen zu kommen, dann sagt das viel über die Geringschätzung der Deutschsprachigen in Brüssel. Lambertz tummelt sich zwar auf fast jedem Empfang in der Hauptstadt, aber das bringt der DG überhaupt nichts. Für die in Brüssel ist die DG „quantité négligeable“.

  2. @eastwind

    Sehr korrekt. Die DG stellt etwa 0,75% der belgischen Bevölkerung dar, wobei die Kriminalitätsrate hier in Ostbelgien wahrscheinlich weit unter dem Landesdurchschnitt liegt. Da muß man sich keine Illusionen machen, wir stehen bestimt nicht oben auf der Prioritätsliste einer federalen Justizministerin, und auf die Wählerstimmen hier aus der DG wird die gute Frau Turtelboom auch nicht angewiesen sein. Auch wenn Lambertz so viel Wert auf seine Beziehungen nach aussen (damit sind auch die Beziehungen in Richtung Brüssel gemeint) legt, da ist ausser Spesen nix gewesen. Das Geld für Repräsentatonen der DG in Brüssel ist rausgeworfenes Geld. Wir sind effektiv „Quantité négligable“.

  3. Wenn man sieht, wie haarstreubend langsam manche Zivilsachen in Eupen behandelt werden, dann wäre es wirklich nicht schade um diesen Gerichtsbezirk.
    Für die Bevölkerung, die ihre Angelegenheiten geregelt haben möchte, nicht unbedingt für die Funktionäre in Eupen, wäre eine Fusion mit Verviers gar keine schlechte Lösung.
    Nebenbei ist mir ein „anonymerer“ Gerichtsbezirk lieber als ein System, in dem jeder jeden kennt. Wie soll man da Unbefangenheit erwarten?

  4. Kommentator

    @nmm: da gebe ich Ihnen Recht. Manchmal kann die DG, wo jeder jeden kennt, zu klein und ein Richter zu befangen sein. Im Vergleich dazu wäre eine gewisse Anonymität, wie man sie in Großstädten hat, besser. Andererseits kann der Richter in Eupen die Verhältnisse vor Ort besser einschätzen. Aber in der Tat frage ich mich oft, ob Richter wirklich ganz nach Paragraph urteilen oder eher nach ihrem Gefühl und ihrem persönlichen Gusto. Denn die passenden Paragraphen, um das Urteil nachher zu rechtfertigten, findet ein cleverer Richter immer.

  5. R.A. Punzel

    @nmn: „… haarstreubend langsam manche Zivilsachen in Eupen behandelt werden…“. Oder gar nicht, denn Kugelschreiberbestellungen müssen vorrangig abgewickelt werden….

    Wie wäre es hiermit:
    http://www.spiegel.de/panorama/justiz/drogenkrieg-in-mexiko-buergerwehren-greifen-zur-selbsjustiz-a-883795.html

    Man beachte den Kommentar: „… Allein das Wort „Arbeit“ duerfte fuer die Mehrzahl der Verbrecher, dort wie bei uns, abschreckender sein als eine Gefaengnisstrafe.“

  6. @R.A. Punzel

    Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich.
    In Belgien, erst recht in Ostbelgien haben wir eine extrem friedfertige Bevölkerung. Die Leute sind brav wie die Schafe, was an sich ja etwas Gutes ist, allerdings haben sie die blöde Angewohnheit, sich ständig ihre Metzger zu wählen. Die politischen Metzger beschränken sich die meiste Zeit darauf, die Schafe zu scheren, aber im Justizbereich ist es dann wie Bismarck meinte, so, dass die meisten Leute nicht wissen wollen, wie Staatsgeschäfte oder Wurst gemacht werden.
    Ich will aber auch nicht auf die gesamte Justizproblematik Belgiens eingehen, das ist ein viel zu großes Trauerstück, ich wollte nur darauf hinweisen, dass es in Eupen noch einen Zacken schmutziger ist als in Charleroi.
    Da herrschen Zustände wie in Russland oder Afrika.

  7. R.A. Punzel

    @nmm: Da bleibt nur zu hoffen, dass via ostbelgiendirekt die Machenschaften der Metzger aufgedeckt werden. Die ostbelgischen Informationsableger von „Prawda und Radio Eriwan“ werden dann auch nicht mehr benötigt. Der Unterschied zwischen Charleroi und Eupen besteht wohl darin, dass in Charleroi „große Familien“ die Marschrichtung vorgeben. Möge die Luft „da oben“ dünne werden.

  8. sokrates

    ich stimme …nmm… und …kommentator… zu bzgl. der Befangenheit von Richtern, Staatsanwälten und Ermittlern. Ostbelgien ist ein kleines Dorf, wo nicht nur jeder jeden kennt, sondern die Funktionäre des Justizwesens auch in einem Beziehungsgeflecht stecken, die „Gefälligkeiten“ mit sich bringen. Wer ermittelt schon gerne gegen einen guten Freund oder Verwandten, erst recht wenn dieser betucht und einflussreich ist. Ausserdem profitieren Politik und Justiz voneinander, auch wenn dies von der Justiz verneint wird, dafür gibt es genügend Beispiele.Wo bleibt da noch die Objektivität und Neutralität? Besser wäre, wenn Richter, Staatsanwälte oder Ermittler erst gar nicht Mitglied in einem Serviceclub, einer Partei oder sonstigem Verein sind. Nebenbei bemerkt würde man viele Steuergelder sparen,wenn eine Fusion mit den Gerichtsbezirken Verviers und Huy stattfinden würde und die Anonymität bliebe so auch gewahrt. Dass die hiesigen Funktionäre dagegen sind, ist verständlich, würden sie dadurch doch in der Bedeutungslosigkeit versinken. (s. Kommentar toll)

  9. RabotiRaboti

    Bei den bisher bestehenden Kommentaren bleibt zu hoffen, dass der hier vielzitierte Ostbelgier sich mit einer französischen Verfahrenssprache anfreuden kann. Anderseits könnten die kritisierten Personen ja dann in Verviers oder Huy Ihres Amtes walten. Wo dann der hier geforderte Unterschied bestehen soll, würde mich doch glatt interessieren. Steht eine „geforderte“ Standortverschiebung automatisch für einen Zugewinn an Objektivität und Neutralität?
    Ich übe mich dann mal wieder im Stricken von Kausalzusammenhängen und hoffe viele Nachahmer zu finden.

    Lieben Gruß,
    die Plattitüde

  10. Beobachter

    Sehe ich auch so
    Statt die Polizei zu reformieren hätte man be der Justiz anfangen sollen.
    Die haben immer noch keine funktionierende Informatik und seit Ewigkeiten zuwenig Platz im Knast.
    Bald wird Vervier geschlossen was komt dan? Geht Täter erst wenn Sie 4 Jahre Haft haben in den Knast? Statt wie jetzt 3?
    Gibt es einen Monat wo die Wärter nicht streiken ?
    Warum mUssen Mörder 4 Jahre auf die Gerichtsverhandlung warten?
    Warum haben wir so viele Verfahrensfehler?
    Warum immer gegen Auflagen Freilassung?
    Räumt auf Bitte

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