Als Valéry Giscard d’Estaing regierte, gab es in Frankreich noch die Todesstrafe. Mit Helmut Schmidt bildete der französische Staatschef ein erfolgreiches Tandem – und brachte Europa voran.
Nachträglich sprach Valéry Giscard d’Estaing von einem „Goldenen Zeitalter“ zwischen Frankreich und Deutschland. In seiner Amtszeit als französischer Staatspräsident zwischen 1974 und 1981 brachten er und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Europa voran.
Beide Spitzenpolitiker konzipierten beispielsweise das Europäische Währungssystem, das von 1979 an lange den Rahmen für die währungspolitische Zusammenarbeit der Partnerländer bildete.
Nun starb Giscard, der dritte Präsident der 1958 geschaffenen Fünften Republik, hochbetagt im Alter von 94 Jahren.
Der hochgewachsene Franzose mit den aristokratischen Auftreten und der kantige SPD-Politiker Schmidt zogen auch auf internationalem Parkett am selben Strang. Sie standen für die Gründung der Gipfeltreffen der großen Wirtschaftsmächte. Diese trafen sich zunächst im Format der sogenannten G6. Auf Schloss Rambouillet bei Paris kamen die Spitzenvertreter aus Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und den USA erstmals 1975 zusammen.
Die Einigung Europas und die deutsch-französische Freundschaft gehörten zum Lebenswerk von Giscard. Der mit dem Karlspreis der Stadt Aachen (2003) ausgezeichnete Franzose nutzte sein Amt für Reformen und Weichenstellungen.
Geboren am 2. Februar 1926 in Koblenz im damals französisch besetzten Rheinland, absolvierte er nach dem Zweiten Weltkrieg die Elitehochschule ENA. Er war lange Wirtschafts- und Finanzminister, bevor er nach dem Tod von Präsident Georges Pompidou im Alter von 48 Jahren in das höchste Staatsamt gewählt wurde.
Giscard setzte sich in der Stichwahl nur mit knapper Mehrheit gegen den Sozialisten François Mitterrand durch. Der scharfzüngige Mitterrand bezeichnete seinen Widersacher aus großbürgerlichem Haus einmal ironisch als „alten jungen Mann“.
Geschliffene Manieren und eine Vorliebe für die Jagd
Als Präsident setzte Giscard in der unruhigen Zeit nach der Revolte von 1968 weitreichende gesellschaftliche Reformen wie die Liberalisierung des Ehe- und Abtreibungsrechts durch. Gleichzeitig wurde in den 1970er Jahren in Frankreich immer noch die Todesstrafe vollstreckt. 1977 war Hamida Djandoubi der letzte Häftling, der auf der Guillotine starb. Er habe Frankreich modernisieren wollen, „ohne mit seiner Vergangenheit zu brechen“, bilanzierte der liberale Zentrumspolitiker einmal.
Mit seinen geschliffenen Manieren und einer Vorliebe für die Jagd wirkte er gelegentlich sehr weit von seinen Mitbürgern entfernt. Gegen Ende seiner Amtszeit litt seine Popularität – unter anderem wegen der Affäre um ein Diamantengeschenk des zentralafrikanischen Diktators Jean-Bédel Bokassa.
Von 2002 an führte Giscard den EU-Reformkonvent, der zur Erneuerung der Europäischen Union einen Verfassungsentwurf vorlegte. Mit dem Nein der Franzosen und der Niederländer bei Volksabstimmungen im Jahr 2005 scheiterte das Vorhaben jedoch spektakulär. Danach übernahm der EU-Vertrag von Lissabon wichtige Regelungen der abgelehnten Verfassung.
2003 wurde Giscard in die prestigereiche Gelehrtengesellschaft Académie française gewählt, deren Mitglieder „die Unsterblichen“ genannt werden. Er verfasste auch mehrere Bücher, unter anderem den Roman „Die Prinzessin und der Präsident“. Darin erzählt er, wie ein französischer Präsident namens Jacques-Henri Lambertye mit Prinzessin Patricia von Cardiff anbandelt.
Der Roman ist reich an Anspielungen – ganz Paris spekulierte danach, ob Giscard eine Affäre mit Prinzessin Diana hatte oder nur reich mit Fantasie gesegnet war. „Wir wollen mal nicht übertreiben: Ich kannte sie ein wenig, wir hatten ein vertrauensvolles Verhältnis“, sagte Giscard einmal.
Im Mai geriet der Altpräsident im hohen Alter wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung in die Schlagzeilen: Eine Reporterin des WDR warf ihm vor, ihr nach einem Interview mehrfach ans Gesäß gefasst zu haben. Die Pariser Staatsanwaltschaft begann daraufhin eine Untersuchung. Giscard d’Estaing bezeichnete den Vorwurf in einem Interview als grotesk. (dpa)