Der 23. Mai 1992 hat für Sizilien einen Stellenwert wie der 11. September für die USA. An jenem Tag riss eine Bombe den Anti-Mafia-Kämpfer Giovanni Falcone in den Tod. Italien war geschockt von der rohen Gewalt. Nun jährt sich der Mord zum 30. Mal. Inzwischen geht die Mafia „stiller“ vor. Und dennoch müssen auch heute die Gegner um ihr Leben fürchten.
An einem schwülen Samstagabend im Mai 1992 fahren Giovanni Falcone und seine Frau Francesca Morvillo Richtung Palermo. Sie kommen aus Rom. Der bekannte Mafia-Jäger im Staatsdienst sitzt am Steuer des Autos. Gegen 18.00 Uhr explodieren auf der A29 nahe dem Ort Capaci plötzlich 500 Kilogramm Sprengstoff unter der Straße. Der Begleitwagen wird in die Luft geschleudert, Falcones Auto kracht in den Bombenkrater.
Der 53-Jährige und seine Frau sterben, ebenso drei Leibwächter. Sie sind Opfer der sizilianischen Cosa Nostra geworden.
Wer die Mafia jagt, schwebt ständig in Lebensgefahr – damals wie heute. Jüngst wurde bekannt, dass in Kalabrien ein Anschlag auf den Staatsanwalt Nicola Gratteri verübt werden sollte. Jahrestage wie jener der „Strage di Capaci“, des Blutbads von Capaci, sind manchmal besondere Anlässe für die Mafia, um zu zeigen, dass es sie noch gibt.
Wie Gratteri stand auch Falcone unter ständigem Personenschutz. „Die Cosa Nostra vergisst nicht“, sagte der 1939 in Palermo geborene Mafia-Jäger in einem Interview nur wenige Tage vor dem Anschlag. „Die Mafia ist ein Panther; wendig, brutal und hat das Gedächtnis eines Elefanten.“
Damals warb der Jurist für seine Idee einer „Superprocura“, einer Super-Staatsanwaltschaft, damit sich die Mafia-Bosse nicht weiter ausbreiten können. Inzwischen gibt es diese.
Er und seine Kollegen legten damals Grundsteine im Kampf gegen die gefürchtete Cosa Nostra. „Richter Falcone hat eine neue Ermittlungsmethode, später bekannt als ‚Follow the money‘ (Folge dem Geld), erarbeitet“, sagt Lorena Di Galante, Chefin des zweiten Reviers der nationalen Antimafia-Ermittlungsdirektion (Dia). Dadurch sei es möglich gewesen, Banküberweisungen der Mafia zu verfolgen und Bewegung von illegal beschafftem Geld zu rekonstruieren, erklärte Di Galante weiter. Derartige Ermittlungen seien heute Eckpfeiler der Untersuchungen, sie legten die Verflechtungen in der Gesellschaft, auf politischer, wirtschaftlicher und unternehmerischer Ebene offen.
Einige Mafia-Jäger bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben: Wenige Wochen nach dem Mordanschlag von Capaci tötete die Mafia auch den Juristen Paolo Borsellino – ein Freund Falcones aus Kindheitstagen – mit einer Autobombe in Palermo. Er besuchte gerade seine Mutter.
Die Anschlagserie riss Italien aus dem Schlaf der Gleichgültigkeit gegenüber dem organisierten Verbrechen. Die Justiz ermittelte später die Drahtzieher, Zeugen packten aus und brachen die Omertà, das Gesetz des Schweigens innerhalb der Mafia gegenüber den Behörden. Viele landeten danach hinter Gittern. So auch der mächtige Mafia-Boss Salvatore „Totò“ Riina, der „Boss der Bosse“, aus dem kleinen Ort Corleone, dessen Name vielen aus dem Film „Der Pate“ ein Begriff ist.
Vor drei Jahrzehnten starb Falcone, die Mafia in Italien lebt aber weiterhin. Wöchentlich berichten Finanzpolizei, Carabinieri oder die Staatspolizei von Festnahmen mutmaßlicher Mafiosi und beschlagnahmten Gütern in Millionenhöhe.
Wie viele Mafia-Kriminelle in Italien schätzungsweise aktiv sind, gibt Di Galante nicht preis, dafür aber Ermittlungserfolge seit 1992: Mehr als 11.000 Menschen wurden demnach im Zusammenhang mit der Mafia festgenommen und rund 7,68 Milliarden Euro an Gütern beschlagnahmt.
Mehrere Organisationen teilen sich den Süden auf: die Camorra in Kampanien, die ‚Ndrangheta in Kalabrien, die Cosa Nostra auf Sizilien und verschiedene Mafia-Clans in Apulien. Ihre Ableger sind im ganzen Land und teils auf der ganzen Welt verteilt.
Während der 1980er und Anfang 1990er wurden noch blutige Mafia-Kriege mit rund 1.000 Toten ausgefochten, wie der Staatsanwalt der Antimafia-Direktion, Salvatore Dolce, der Deutschen Presse-Agentur sagt. Heute zögen es die Clans dagegen vor, „still“ zu operieren.
„Als gefährlichste Mafia wird schon seit einigen Jahren die ‚Ndrangheta angesehen“, erklärt Dolce. Sie sei auch in den reichen Regionen des Nordens wie der Lombardei mit der Hauptstadt Mailand, in Venetien, Ligurien und Piemont aktiv, ebenso wie im Ausland – in Deutschland, der Schweiz, Kanada und sogar Australien. Im Ausland seien die Mafiosi vor allem im Handel oder der Gastronomie tätig.
Di Galante sagt, die ‚Ndrangheta verfüge über beträchtliche wirtschaftliche Ressourcen aus dem internationalen Drogengeschäft, Glücksspiel, Handel mit Erdölprodukten sowie Erpressung und der Infiltration bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge.
Die Cosa Nostra änderte der Antimafia-Ermittlungsdirektion zufolge seit den 1990er Jahren ihre Strategie und tauchte ab. Sie habe sich in der Wirtschaft breit gemacht, etwa auf dem Feld der erneuerbaren Energien oder bei der Abfallentsorgung in den Städten, erklärt Di Galante. Die Camorra funktioniere dagegen wie eine Holding aus mächtigen Mafia-Clans, die im Gesellschaftsgefüge verwebt seien.
Der 23. Mai ist für Italien ein wichtiger Tag des Gedenkens und des Mahnens. Staatspräsident Sergio Mattarella, gebürtig aus Palermo, wird sich anlässlich des Anschlags äußern. Für ihn hat der Jahrestag eine persönliche Bedeutung: Sein Bruder Piersanti wurde 1980 als Regionspräsident von Sizilien von der Mafia ermordet. (dpa/cre)