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Worum es geht bei den Unruhen in Kasachstan: Wer protestiert und wer profitiert? [Fragen & Antworten]

Politische Karte von Zentralasien mit Kasachstan im Zentrum. Kasachstan ist der größte Binnenstaat und der neuntgrößte Staat der Welt. Die Hauptstadt Astana heißt heute Nur-Sultan. Karte: Shutterstock

AKTUALISIERT – Kasachstan kommt nicht zur Ruhe: Bei den schwersten Ausschreitungen seit Jahren geht schon seit Tagen Militär gegen Demonstranten vor. Dutzende Menschen wurden getötet. Dem autoritären Präsidenten kommen die Proteste gar nicht unrecht, meinen Experten.

Die Ereignisse in der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Kasachstan überschlagen sich: Aus Protesten gegen deutliche Gaspreis-Erhöhungen sind schwerste Ausschreitungen mit Toten und Verletzten geworden. Viele Demonstranten gehen friedlich gegen die autoritäre Staatsführung auf die Straße, daneben liefern sich bewaffnete Mobs Gefechte mit Sicherheitskräften.

Präsident Kassym-Schomart Tokajew entließ die Regierung, setzte Militär ein und rief unter anderem russische Soldaten zur Hilfe. Am Freitag schließlich erließ er den Befehl, „ohne Vorwarnung“ auf Demonstranten zu schießen. International sorgte das für viel Entsetzen. Zur Lage in dem neuntgrößten Land der Erde einige Fragen und Antworten:

FRAGE: Wie haben sich die Proteste in den vergangenen Tagen entwickelt?

08.01.2022, Kasachstan, Almaty: Bewaffnete Bereitschaftspolizisten machen sich während einer Straßenkontrolle nach Zusammenstößen schussbereit. Foto: Vasily Krestyaninov/AP/dpa

ANTWORT: Seit Jahren sind viele Kasachen frustriert von Korruption und Machtmissbrauch in ihrer Heimat. Die gestiegenen Preise für Treibstoff an den Tankstellen seien da für viele nur symptomatisch gewesen, meinen Experten. Zu beobachten sei „die Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass einerseits das Land über hohe Erdöl- und Gasvorkommen verfügt, dass die Gewinne daraus aber nur bei sehr wenigen ankommen“, sagt Andrea Schmitz, Zentralasien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Deutschen Presse-Agentur.

Mittlerweile gibt es keine Bilder von großen Demonstrationen mehr. In den vergangenen Tagen starben offiziellen Angaben zufolge mehr als 40 Menschen; es gab zahlreiche Verletzte und mehr als 4.400 Festnahmen. Immer wieder tauchen in sozialen Netzwerken Videos auf, auf denen Schussgeräusche und Schreie zu hören sind.

FRAGE: Wer sind die Menschen, die jetzt noch protestieren?

ANTWORT: Auch wenn Tokajew und Staatsmedien immer wieder von bewaffneten „Terroristen“ sprechen: Vielerorts halten Menschen unabhängigen Nachrichtenkanälen zufolge weiterhin kleinere, friedliche Kundgebungen ab. In der Nacht zum Samstag hätten sich etwa in Schangaösen im Westen des Landes rund 1000 friedliche Demonstranten gewaltfrei versammelt, schrieb das Portal Orda auf Telegram. Landesweit gibt es bei solchen Veranstaltungen Festnahmen.

06.01.2022, Kasachstan, Nur-Sultan: Demonstranten protestieren gegen gestiegene Gaspreise. Foto: -/XinHua/dpa

Heftige Zusammenstöße ereigneten sich in der Wirtschaftsmetropole Almaty. Bereits seit Tagen geht dort das Militär gegen Zivilisten vor. Doch es ist unklar, wer die Menschen sein sollen, die dort angeblich militanten Widerstand gegen Sicherheitskräfte leisten. Mitunter war es fast unmöglich, verlässliche Informationen zu bekommen.

FRAGE: Warum ist die Quellenlage so schwierig?

ANTWORT: Die autoriären kasachischen Behörden haben vielerorts immer wieder das Internet abgestellt. Die Ex-Sowjetrepublik hat zudem die Grenzen für Ausländer geschlossen. In Almaty ist die Mobilfunkverbindung ständig unterbrochen. Unabhängige Journalisten und Beobachter dort vor Ort zu erreichen, war zuletzt kaum möglich.

Verfügbar sind vor allem Darstellungen von Behörden, Staatsmedien – und dem Präsidenten selbst. Doch an denen gibt es zumindest erhebliche Zweifel. So behauptete Tokajew etwa, 20 000 «Banditen» hätten Almaty angegriffen. Der kasachische Politologe Marat Baschimow hingegen meint, derart viele Terroristen hätten im Vorfeld wohl schwerlich von den gut aufgestellten kasachischen Sicherheitsorganen unbemerkt agieren können.

05.01.2022, Kasachstan, Nur-Sultan: Kassym-Schomart Tokajew, Präsident von Kasachstan, nimmt an einer Sitzung des Sicherheitsrates teil. Aus dem Unmut über gestiegene Gaspreise sind gewaltsame Ausschreitungen gegen die autoritäre Führung in Kasachstan geworden. Foto: -/Kazakh presidential website/XinHua/dpa

FRAGE: Welche Absichten verfolgt Tokajew?

ANTWORT: Seit dem Rücktritt des ersten kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew ist Tokajew zwar Staatschef. Wesentliche Vollmachten aber blieben bei dem 81-jährigen Nasarbajew, weshalb es in dem Land im Grunde zwei Machtzentren gab. Tokajew steht im Ruf, wichtige Reformen auch mit Rücksicht auf seinen politischen Ziehvater verschleppt zu haben. Durch die nie dagewesenen blutigen Unruhen in Almaty entsteht nun ein neues System mit Tokajew im Zentrum. Der frühere Diplomat zog im Grunde parallel zu den Protesten eine Palastrevolution durch, indem er Nasarbajews Machtbasis weitgehend zerstörte.

Der 68-jährige Tokajew entließ nicht nur die Regierung des Nasarbajew-Vertrauten Askar Mamin. Der Präsident übernahm von Nasarbajew auch den mit großer Machtfülle ausgestatteten Vorsitz in Sicherheitsrat. Und er ersetzte die mächtige Geheimdienstführung durch eigene Vertraute. Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrats festgenommen. In nur wenigen Tagen habe Tokajew Nasarbajews Ära endgültig beendet, schreiben Experten der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center in einer Analyse. Der Präsident habe wahrscheinlich am meisten durch die Krise gewonnen.

FRAGE: Kommt Kremlchef Wladimir Putin die Krise in Kasachstan gelegen?

ANTWORT: Das öl- und gasreiche Land mit Zugang zum Kaspischen Meer ist für Russland der wichtigste Verbündete in der Region Zentralasien. In der kasachischen Steppe liegt auch Russlands Weltraumbahnhof Baikonur, ein strategisch wichtiges Objekt. Zwar ist Russland in zahlreichen Krisen eingebunden wie etwa in Syrien. Aber Kasachstan ist eine weitere Gelegenheit für Putin, Stärke zu zeigen. Zudem hebt er die Bedeutung der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit, einer bisher eher zahnlosen Antwort auf die Nato, die nun den Militäreinsatz führt.

08.01.2022, Kasachstan, –: Auf diesem Foto fahren belarussische Friedenssoldaten auf einem gepanzerten Mannschaftstransporter, während sie ein russisches Militärflugzeug auf einem Flugplatz in Kasachstan verlassen. Foto: -/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Putin dürfte Vorteile durch den Einsatz sehen, weil Russland sich als Garant von Stabilität in Zentralasien zeigen kann. Durch die Unterstützung für Tokajew erhält er sich ein russlandfreundliches System in Kasachstan. Das war schon bei der Hilfe für den als „letzten Diktator Europas“ kritisierten Alexander Lukaschenko in Belarus zu sehen. Kremlkritiker in Moskau betonen, dass Putin durch den Militäreinsatz auch ein Signal an Gegner im eigenen Land sende, dass er um keinen Preis von der Macht lassen und sie notfalls mit Gewalt durchsetzen werde – wie in Belarus und in Kasachstan.

FRAGE: Wie wird es nun weitergehen in Kasachstan?

ANTWORT: Durch sein insgesamt hartes Durchgreifen dürfte sich der frühere Diplomat Tokajew nun als ein Politiker profilieren, der mit Einschüchterung und harter Hand regiert. Die Experten des Carnegie-Zentrums erwarten keine grundlegenden Reformen, sondern vielmehr wie zuletzt in Belarus eine «Verhärtung des Regimes» und Druck auf Andersdenkende. Allerdings ist damit nicht die schwere wirtschaftliche Krise im Land, die sich durch die Lockdowns in der Pandemie verschärfte, gelöst. (dpa)

19 Antworten auf “Worum es geht bei den Unruhen in Kasachstan: Wer protestiert und wer profitiert? [Fragen & Antworten]”

  1. volkshochschule

    Das kann doch kein Zufall sein gerade jetzt während der Ukraine Krise, rumort es wieder im weiterem Umfeld des Kreml. Während der Westen nur friedliebende Bürger sieht die ihren Unmut über gestiegene Energiekosten zum Ausdruck bringen, sehen andere mutmaßliche Agenten aus dem Ausland und gewaltbereite Warlords aus Afghanistan die dort vertrieben werden, von den mit neuen Waffen und Kampfdrohnen ausgerüsteten Taliban und deshalb neue Betätigungsfelder suchen. Mag auch sein das der Kreml die Staatsführung in dieser ehemaligen Sowjetrepublik zunehmend kritisch sieht, aber irgendwelche neuen Kräfte an der Macht kann und wird er vor seiner Haustüre nicht zulassen.

  2. Hans Eichelberg

    „Kasachstan zählt zu den wichtigsten Rohöllieferanten Deutschlands und der EU. Tokajew schrieb in der Nacht an die Adresse der Wirtschaft im Ausland: «Die Politik der offenen Türen für ausländische Direktinvestitionen wird eine Kernstrategie Kasachstans bleiben.»

    In der Gänze positiv für Deutschland und die EU.

  3. Guido Scholzen

    Die Armeen Russlands und Kasachstans sind extrem eng verflochen: Kasachstan bezieht fast alle Militär-Ausrüstung aus Russland, und die gegenseitige Zusammenarbeit geht seit Jahren sogar so weit, dass der momentane russische Verteidigungsminister, Sergei Kuschugetowitsch Schoigu, ein Kasache ist!

    In Sachen Militärischer Zusammenarbeit würde ich Russland und Kasachstan als „Siamesische Zwillinge“ betrachten: Einer ist auf den anderen auf Gedeih und Verderb angewiesen.

  4. karlh1berens

    Zitat : „Aus Protesten gegen deutliche Gaspreis-Erhöhungen….“
    „Die gestiegenen Preise für Treibstoff an den Tankstellen seien da für viele nur symptomatisch gewesen,“

    Es gibt Meinungen, dass diese Gaspreiserhöhungen künstlich herbeigeführt worden sein könnten, um die Agenda der ausländischen Agitatoren (welche eigentlich erst zu den olympischen Spielen zur Anwendung kommen sollte) zu durchkreuzen.
    Auf diese „vorzeitigen Unruhen“ seien die CIA/MI6 nicht vorbreitet gewesen.
    Interessanter Gedanke :-)

  5. „Agenda der ausländischen Agitatoren“

    Gibt es schon irgendwelche Informationen über die „Banditen, Verbrecher, Terroristen“ etc. , welcher Nationalität sie angehören,
    da es schon einige Tote und ca. 5.000 Festnahmen gab?

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