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„Kein Leben mehr“: Mariupol versinkt in Chaos, Trauer und Verzweiflung – Tausende fliehen aus der Hafenstadt

10.03.2022, Ukraine, Mariupol: Ein Mann geht mit einem Fahrrad auf einer Straße, die durch einen Beschuss beschädigt wurde. Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

In der Hafenstadt Mariupol herrscht Chaos wie in keiner anderen der ukrainischen Metropolen, die durch den Krieg von Kremlchef Putin zerstört werden. Tausende fliehen aus beschossenen Häusern. Die russische Armee hat derweil schon das nächste Ziel im Visier.

Von Rauch verkohlte Häuserskelette, zertrümmerte und ausgebrannte Autos und geplünderte Geschäfte – in der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Mariupol breitet sich das Grauen aus.

Die Bilder der bombardierten Geburtsklinik und des zerstörten Stadttheaters sind allgegenwärtig. Zu Tausenden harren Menschen im Lärm von Detonationen in ihren Kellern aus – in Angst um ihr Leben. Wer kann, der flieht. Doch das ist gefährlich.

17.03.2022, Ukraine, Mariupol: Dieses vom Asow-Bataillon zur Verfügung gestellte Bild zeigt das nach Beschuss beschädigte Theater in Mariupol. Foto: Uncredited/Azov Battalion/AP/dpa

Immer mehr Bürger aus Mariupol, die raus sind und wieder Zugang zu Strom und Internet haben, veröffentlichen bei Telegram Handyvideos von den schweren Zerstörungen in der Industriestadt am Asowschen Meer.

„Mein Haus brennt, alle zwölf Etagen“, sagte ein Mann, während er das in Flammen stehende Gebäude am Prospekt Mira – der „Straße des Friedens“ – filmt. „Kein Leben mehr.“ Dann ist nur noch ein tränenersticktes Schluchzen zu hören.

Es gibt Dutzende Aufnahmen in ukrainischen und russischen Medien aus der Stadt, in der einst rund 440.000 Menschen lebten. Jetzt wird die Zahl der Einwohner noch auf etwa 300.000 geschätzt. Es kursieren auch Videos, die zeigen sollen, wie russische Panzer mehrstöckige Wohngebäude beschießen.

„Leider hört der Beschuss nicht auf in der Stadt. Es gibt ständig Straßenkämpfe“, informiert der Telegram-Kanal „Mariupol jetzt“ am Sonntag die Bürger. Es werde alles getan, um Mariupol zu evakuieren.

An den Tankstellen gibt es kaum Benzin, weshalb viele ihre Autos nicht betanken können. Zehntausende aber haben es bereits geschafft. An den Autos in einer kilometerlangen Kolonne auf dem Fluchtkorridor von Mariupol Richtung Saporischschja flattern weiße Bändchen.

20.03.2022, Ukraine, Lwiw: Eine Mutter umarmt ihren Sohn, der aus der belagerten Stadt Mariupol geflohen ist und am Bahnhof in Lwiw in der Westukraine ankommt. Foto: Bernat Armangue/AP/dpa

Das Fernsehen zeigt Menschen in den Autos, die sagen, dass sie nur noch weg wollten. Es gebe kein Leben mehr in Mariupol. Männer müssen sich teils ausziehen. Russische Soldaten suchen nach ukrainischen Kämpfern. Demnach sollen sie durch typische blaue Flecke am Körper von Gewehrkolben und Druckstellen der Schutzwesten erkennbar sein. Etwa 100 seien schon gefasst, sagt ein russischer Kriegsreporter.

Auch das Moskauer Staatsfernsehen zeigt Trümmerteile, zerstörte Autos und ausgebrannte Häuser – die Kreml-Propaganda behauptet, ukrainische nationalistische Kämpfer hätten die Gebäude zerstört und Menschen als Geiseln genommen. Wenn sich der Pulverdampf gelegt haben wird, werden sich die Kriegsparteien gegenseitig weiter verantwortlich machen für die Verbrechen – die Tötung vieler Zivilisten, darunter Kinder.

Doch jetzt harren weiter Zehntausende Menschen in Bombenkellern ohne Strom, fließend Wasser und Heizung aus – mitunter bei Minusgraden. Viele klagen über Hunger. Ein Mann sagt, er habe seit Tagen nicht einmal ein Stück Brot gehabt. Andere bereiten auf der Straße am offenen Feuer warmes Wasser, Suppen und Brei zu. In einem Video sagt ein Mann: „Trauer und Verzweiflung haben diese Erde erfasst.“

Seit Tagen verbreiten sich auch kaum überprüfbare Aufnahmen im Internet davon, wie Leichen in Gräben verscharrt werden. Die Behörden sprechen von mehr als 2.500 Toten. Rund 80 Prozent der Wohngebäude seien beschädigt, 30 Prozent könnten nur noch abgerissen werden.

17.03.2022, Ukraine, Mariupol: Eine Schlange von Autos bildet sich auf der Straße um die Stadt zu verlassen, nachdem die pro-russischen Streitkräfte einen humanitären Korridor am Nordrand der Stadt geöffnet haben. Foto: Maximilian Clarke/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Entsetzt reagiert die Stadtverwaltung am Wochenende auf die Moskauer Fernsehberichte, viele Menschen aus Mariupol seien nach Russland geflohen. Zu sehen sind Menschen, die sich erleichtert zeigen, in Sicherheit zu sein. Die ukrainischen Behörden sprechen hingegen von Verschleppung.

Bürgermeister Wadym Bojtschenko vergleicht das Vorgehen mit dem Abtransport von Zwangsarbeitern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. „Nicht nur, dass die russischen Truppen unser friedliches Mariupol vernichten, sie gehen noch weiter und haben begonnen, die Mariupoler aus dem Land zu bringen“, sagt der 44-Jährige.

Militärisch gilt die Lage nach knapp drei Wochen Blockade als nahezu aussichtslos. In Mariupol kämpfen vor allem die als „Neo-Nazis“ verschrienen Kämpfer des bereits 2014 in Mariupol eingesetzten Asow-Bataillons gegen russische Truppen.

„Faktisch 3.000 Kämpfer binden gerade eine vierzehntausendköpfige russische Gruppierung“, sagt der rechtsextreme Ex-Parlamentsabgeordnete Andrij Bilezkyj. Der Asow-Gründer fordert eine Offensive der ukrainischen Armee. „Es müssen die ukrainischen Helden gerettet werden“, sagt der 42-Jährige in einem Video mit bewaffneten Kameraden des inzwischen in die Nationalgarde eingegliederten Regiments Asow.

04.03.2022, Ukraine, Mariupol: In einem Krankenhaus in Mariupol versucht medizinisches Personal, das Leben von Marina Yatskos 18 Monate altem Sohn Kirill zu retten, der durch Granatenbeschuss tödlich verwundet wurde. Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Auf Hilfe aus Kiew können die Asow-Kämpfer, die etwa Russland als Terrororganisation eingestuft hat, aber nicht hoffen. Auch in den Unterlagen des US-Kongresses ist festgehalten, dass keine Waffen aus der amerikanischen Militärhilfe an die Asow-Gruppe gehen dürfe. Das Präsidentenbüro in Kiew begründet die Ablehnung allerdings damit, dass die ukrainischen Truppen nördlich von Mariupol durch die Offensive der Russen gebunden seien. Es gebe keine Reserven für eine solche Operation, meint Präsidentenberater Olexij Arestowytsch.

Im russischen Staatsfernsehen berichten Moskauer Kriegsreporter aus Mariupol, dass ein Sieg über die Tausenden Asow-Kämpfer entscheidend sei. Nun werde die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw im Osten des Landes das nächste Ziel der Befreiung des Landes von den „Nazis“.

Kremlchef Wladimir Putin hatte den Angriff auf die Ukraine am 24. Februar unter anderem mit einer „Entnazifizierung“ des Landes begründet – ein aus Sicht von Experten unhaltbarer Vorwand.

Von einer „absurden Erzählung“ Putins spricht die israelische Extremismus-Expertin Rita Katz von der US-Nichtregierungsorganisation SITE Intelligence Group. Zwar sei das Asow-Bataillon eine rechtsextreme nationalistische Bewegung, der sich auch Rechtsradikale aus anderen Ländern anschlössen. Es sei aber falsch, wenn Putin behaupte, die Regierung des von dem jüdischstämmigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geführten Landes sei von Neo-Nazis durchsetzt. (dpa)

15 Antworten auf “„Kein Leben mehr“: Mariupol versinkt in Chaos, Trauer und Verzweiflung – Tausende fliehen aus der Hafenstadt”

  1. „Zwar sei das Asow-Bataillon eine rechtsextreme nationalistische Bewegung, der sich auch Rechtsradikale aus anderen Ländern anschlössen. Es sei aber falsch, wenn Putin behaupte, die Regierung des von dem jüdischstämmigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geführten Landes sei von Neo-Nazis durchsetzt“
    Liebe OD,
    Es ist aber sowohl traurig als auch richtig. Seit 2014 ist Ukraine kein Staat mehr, sondern ist Ukraine leider ein Land des Nazis Mittel Europas.
    Stellen sie sich eine Situation vor:
    Es gibt ein paralleler Staat Belgiens. Dort gibt es kein Platz Schuman mehr, sondern gibt es Adolf Hitler Platz. Es gibt keine Rue de Loi mehr, anstatt gibt es Leon Degrelle Avenue. Die Waffen SS Flandria und Waffen SS Wallonia sind die offizielle Helden des Landes. Ihre Parolen sind die Parolen Belgiens. Ihre Ideen sind in der Schule integriert. DG ist ausgelöst, Deutsche Sprache ist verboten. Da einige Leute der DG nicht damit einverstanden waren, wurde die DG durch Militär halbiert und abgeriegelt. Nur Eupen und Umgebung gehören zur DG. In Bütgenbach und Umgebung sind Kanonen stationiert. Taglich schießen sie auf Eupen. 8 Jahre lang. Jede 2 Wochen sammelt Eupen und Umgebung ihre getöteten Menschen. Die Belgische Armee ist so konzipiert, dass jeder durch Bütgenbach gehen und auf Eupen schießen muss.
    So ist Ukraine heute.
    Über Mariupol. Seit 4 Tagen ist Azovs 1.Linie durchgebrochen. Seitdem ca. 60.000 Menschen wurden evakuiert und gerettet. Menschen berichten Azov nimmt die ganze Stadt als Geiseln. Die, die raus wollten wurden von Azov erschossen.
    Das ist unmöglich zu vorstellen, was dort passiert wird.

    • Gastleser

      Ich Teile ihre Meinung nicht ganz.
      Es gab aber ein paar krumme Dinger in der Ukraine.
      Abgesehen davon ziehe ich für meine Familie in den Krieg – nicht für Komiker, nicht für Putin und nicht für Brüssel.

    • Soll das den Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen?!

      @ Gast

      Lieber Gast, vielen Dank für Ihre Zeilen.

      Was Sie schreiben können wir leider nicht verifizieren, da wir nur westliche Medien sehen.

      Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass selbst wenn Ihre Darstellungen richtig wären, es nicht diesen Vernichtungskrieg Putins auf die Ukraine rechtfertigt. Wenn es Menschen in der Ukraine gibt, die lieber zu Russland gehören wollen, dann sollen sie bitte nach Russland ziehen – sowas nennt man Demokratie, (die Mehrheit bestimmt!). Mit welchem Recht, greift Putin einen souveränen Staat an? Mit welchem Recht annektiert er die Krim und belügt die ganze Welt indem er sagt: „Das sind nicht unsere Leute, diese Uniformen kann man überall kaufen …“

      Nein, lieber Gast, für diesen Kriege habe ich überhaupt kein Verständnis und ich glaube, wenn das russische Volk von einer freien Presse informiert würde, wäre die Ära Putin schnell zu Ende.

      Dieses Vorgehen ist ja im Übrigen auch kein Einzelfall …!

      • Da sind Sie hier, auf Ostbelgien Direkt, genau richtig mit dem Kommentar.
        Nach ihrer Meinung müssten wir deutschsprachigen Belgier also, nach Deutschland auswandern und die Wallonne nach Frankreich. Die Flamen sind die Mehrheit der Belgischen Bevölkerung.
        Die Ukraine besteht, genau wie Belgien, aus vielen Sprachgruppen. An Sprache ist Kultur, Ausbildung… gebunden. Nicht umsonst hat Ostbelgien eine eigene Regierung. Diese Rechte hat die Ukrainische Regierung nicht gewährt. Da muss man, so wie Sie es schreiben, die Ukraine verlassen.
        Ich muss Sie vielleicht aufklären: Nein, Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten gehört nicht zur Demokratie.
        Wie lange hatten die Russen denn noch zusehen sollen? Der Einfluss der USA und der EU in der Ukraine steigt. Der Eintritt in die NATO wurde in die Staatsverfassung aufgenommen. In Donbas und Lugansk wurden Minderheiten mit Hilfe der NATO Staaten vertrieben und getötet. Wie lange denn noch? Solange bis die Ukrainer von sich aus die Menschenrechte ALLER ukrainischen Bürger achtet? Solange bis die Ukraine mit Hilfe der USA diese Minderheiten getötet und vertrieben hat?

  2. Johann Klos

    Gysi fordert mit einer Rede auf russisch an die Russen zum Wiederstand auf!

    Respekt Herr Gysi! Ihr Wort in den Gehörgang aller demokratisch und pazifistisch gesinnten Russinnen und Russen.

    Allein der Appell wird wohl nichts gravierend ändern. Zu groß dürften die Repressionen gegen die sein die für Frieden und gegen Krieg in Moskau oder anderswo auf die Straße gehen.

    Auch Gysi streitet nicht ab das Putin an Kriegsverbrechen beteiligt war.

    Weiterhin spekuliert man das Geheimdienste auf irgendeine Art Putins Leben ein Ende bereiten wollen.

    Die Richtung stimmt!

    • Corona2019

      @ – Johannes Kloos 00:08

      Wenn diese Spekulationen stimmen, dann sind es gute Spekulationen.
      Wobei es mir auch recht ist wenn man ihn lebend schnappen würde.
      Wahrscheinlich wird er aber lieber sterben, als aufzugeben.
      Sie wissen es, ich weiß es.
      Alle Verhandlungen mit ihm bringen nichts.
      Er will und kann auch nicht mehr zurück.
      Wer in einer Sackgasse fährt ohne Wendemöglichkeit, der kann sich im Rückwärtsgang aus seiner Situation befreien.
      Das Putin nicht weiß, wie man einen Rückwärtsgang einlegt hat er jetzt oft genug bewiesen.
      Leute die nicht lernfähig sind, laufen bekanntlich manchmal in die Gefahr , an ihrer Dummheit zu sterben.

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