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Heute vor 20 Jahren trat die Rechtschreibreform in Kraft: „Zerstörungsakt“ oder doch eine Vereinfachung?

Eine Frau hält einen Rechtschreib-Duden in den Händen. Foto: Tim Brakemeier/dpa

Millionen Menschen deutscher Sprache lernten um – oder versuchten es: Als die Reform der Rechtschreibung 1998 eingeführt wurde, war das aber noch lange nicht das Ende der Debatte über deren Nutzen. Wie fällt die Bilanz nach 20 Jahren aus?

„Grislibär“ oder „Majonäse“: Der Anblick so mancher Neuerung war zunächst irritierend. Oder wirkte – um es mit den Worten eines Boulevardblatts zu sagen – wie eine „Netzhautpeitsche“. Eher als gewöhnungsbedürftig dürften da noch Fälle wie etwa das dreifache „f“ in „Schifffahrt“ und das Doppel-„s“ in „Kuss“ gelten.

Erhitzt noch die Gemüter

20 Jahre nach der offiziellen Einführung der Rechtschreibreform an Behörden und Schulen zum 1. August 1998 hat das Thema zwar nicht mehr die ganz große öffentliche Präsenz in Deutschland, Österreich, der Schweiz und im deutschsprachigen Belgien, viele Gemüter erhitzt es aber doch bis heute.

„Das riesige Regelwerk versteht kein Mensch, es hat nur Verwirrung gestiftet“, sagt der Linguist Peter Eisenberg der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

23.10.1997, Bayern, Nürnberg: Ein Lehrer bringt seiner Schülerin die damals neuen Schreibweisen bei. Foto: Claus Felix/dpa

Der emeritierte Professor der Uni Potsdam, der 2013 aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung ausgetreten ist, hat die Reform von Beginn an vehement kritisiert. Das Thema ist für ihn bis heute nicht vom Tisch. Eisenberg sorgt sich insbesondere um eine sprunghafte Zunahme der Rechtschreibfehler – nach mehreren Untersuchungen um 30 Prozent bei Schülern, wie er sagt.

Bei Fachkollegen und Deutschlehrern beobachtet er eine große Unsicherheit beim Beurteilen von Fehlern, die Verwirrung werde an Kinder weitergegeben. „Der gesellschaftliche Konsens über das, was in der Rechtschreibung richtig oder nicht richtig ist, ist zerstört worden“, sagt Eisenberg. Er lehnt das staatliche Eingreifen in die natürliche und kontinuierliche Entwicklung der Schrift ab. „Aber jetzt kriegen wir es wieder – beim Gendern.“ Eisenberg spricht von einem „zweiten Zerstörungsakt“.

Schon die Idee einer Reform sei unnötig gewesen, das Argument von der angestrebten Vereinfachung der Rechtschreibung sei vorgeschoben, sagt Eisenberg. Politiker hätten die Idee dieses gemeinsamen Vorhabens im Zuge des sogenannten Wandels durch Annäherung in der Ostpolitik der 60er und 70er Jahre gehabt. „Der Grund war jedenfalls nicht, dass die deutsche Orthografie schlechter war als andere Orthografien in Europa, sie war schon vorher eine der besten.“

Orthografie hat keinen hohen Stellenwert

Ob die höhere Fehlerquote bei Schülern tatsächlich auf die neue Rechtschreibung zurückgeht, das ist für den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, fraglich. Er verweist auf eine „geringe Eingriffstiefe“ der Reform, die nur etwa zwei Prozent des Wortschatzes betroffen habe. Probleme beim Rechtschreiben hingen zum Beispiel auch damit zusammen, dass weniger gelesen werde und Orthografie in der Schule keinen so hohen Stellenwert mehr habe. Benotete Diktate etwa gebe es in mehreren Bundesländern nicht mehr.

11.07.1996, Berlin: Blick in ein Schulheft mit der damals alten und neuen Schreibweise verschiedener Waliser und ein Nachschlagewerk mit den Regeln für die damals neue, reformierte Rechtschreibung. Foto: Hubert Link/Zentralbild/dpa

Meidinger sagt aber auch ganz klar über die Reform: „Wir hätten das ganze Unternehmen nicht gebraucht.“ Angesichts der Prinzipien des Deutschen werde es nie eine widerspruchsfreie Rechtschreibung geben, man müsse immer mit Ausnahmen arbeiten. Heute glaube niemand mehr an die Vision, die Rechtschreibung vereinfachen zu können, und auch die Lust darauf fehle nach der langjährigen Auseinandersetzung. „Ich bin mir sicher: Die Politik hat ihre Lektion gelernt“, sagte Meidinger.

Bei aller Kritik gibt es auch positive Stimmen: Kinder müssten die Rechtschreibung nun nicht mehr als Bündel von Einzelfällen erlernen, die Anzahl der Regeln für Rechtschreibung und Zeichensetzung habe sich deutlich verringert, erklärte Andrea Watermeyer, Verlagsleiterin in der Westermann-Gruppe.

Schulbuchverlage hatten nach dem Beschluss der Reform 1996 ihre Titel überarbeiten oder neu produzieren müssen – obwohl einige prominente Literaten sich weigerten, dass ihre Texte in neuer Rechtschreibung erscheinen.

Getrennt- oder Zusammen-, Groß- oder Kleinschreibung

Für Menschen, die noch mit der alten Schreibung aufwuchsen und im Laufe ihres Lebens umlernen mussten, halten Schwierigkeiten teils an. Wie Duden-Sprachberater auf Anfrage berichten, bezieht sich das zum Beispiel häufig auf die Getrennt- und Zusammenschreibung (etwa: „Dank sagen“/„danksagen“) und die Groß- und Kleinschreibung („goldene Hochzeit“/„Goldene Hochzeit“).

Durch eine Leselupe betrachtet, erscheinen Schreibweisen nach der ab dem 01.08.1998 gültigen Rechtschreibung in einer damals aktuellen Ausgabe des Dudens. Foto: Rolf Rick/dpa

Eine der Mitarbeiterinnen erläutert, auch die Kommasetzung sei für den Großteil der Kunden nicht leichter geworden. Letztlich bleibt es in der Beratung aber teils unklar, ob Fragen tatsächlich noch auf die Reform zurückzuführen sind.

Im privaten Bereich sind die Regeln nicht verbindlich. Auch Peter Eisenberg hat – wie wohl viele Menschen und Institutionen in Deutschland – seinen eigenen Kurs gewählt: „Ich mache nur das, was ich muss.“ Gänzlich am alten Regelwerk hält er nicht fest. Auch deshalb, weil es nach anhaltender Kritik in den Nullerjahren schrittweise eine Reform der Reform gab.

Die Schreibungen „Grislibär“ und „Majonäse“ etwa sind wieder passé, korrekt sind „Grizzlybär“ und „Mayonnaise“. Eine Duden-Sprachberaterin hingegen berichtet von einem Kunden, der nur in alter Rechtschreibung schreibt.

Anderswo höhlte offenbar steter Tropfen den Stein. Im Mai dieses Jahres gab das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven bekannt, das dritte „f“ in den eigenen Namen einzufügen. Bis dahin hatte sich das Museum hartnäckig nur mit zwei „f“ geschrieben. Es scheint, als habe Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger recht, wenn er auf ein „böses Bonmot“ verweist: Es besage, dass man die deutsche Sprache nicht erlernen, sondern sich nur daran gewöhnen könne. (dpa)

9 Antworten auf “Heute vor 20 Jahren trat die Rechtschreibreform in Kraft: „Zerstörungsakt“ oder doch eine Vereinfachung?”

          • Nach den alten Regeln war ein Komma zwischen zwei mit „und“ oder „oder“ verbundenen vollständigen Hauptsätzen sogar obligatorisch, und nach dem inzwischen nicht mehr ganz so neuen Regelwerk ist kein früher richtiges Komma falsch geworden, aber manche sind jetzt nur noch optional.

            Ich selbst gebe mir übrigens Mühe, in diesem Fall stets ein Komma zu setzen, so wie Sie es getan haben. Ich finde nämlich, das gliedert den Satz viel besser und ist dadurch eine Hilfe für den Leser, der hier ruhig auch eine kleine Sprechpause einlegen darf, was bei einer Aufzählung von Teilen eines Satzteils ja nicht ohne Weiteres der Fall ist. Zum Vergleich:

            A. „Mona und Lisa gehen ins Kino.“
            → zusammen bilden „Mona“ und „Lisa“ das Subjekt
            → in natürlicher Rede keine Pause vor dem „und“

            B. „Leonardo hat Mona und Lisa gern.“
            → zusammen bilden „Mona“ und „Lisa“ das Objekt
            → in natürlicher Rede keine Pause vor dem „und“

            C. „Mona geht ins Kino, und Lisa fährt nach Lüttich.“
            → „M. geht ins Kino“ und „L. fährt nach Lüttich“ sind vollständige Sätze
            → Pause vor dem „und“ jederzeit möglich; wer will, kann hier Luft holen

  1. dī räĥt-ŝrajp-rēfórm vār nūn wirkliĥ kajne räĥt-ŝrajp-rēvōlūtsjṓn, däñke iĥ. das alr-majste ist jā zō geblībn vī äs vār, unt man kan imr noĥ niĥt nāĥ ajn-faĥn rēgln aws dēr korä́ktn aws-ŝprāĥe awf dī ŝrajp-vajze ŝlīsn. Fīlájĥt zoltn vīr ajn-faĥ das latájniŝe alfabḗt ap-ŝafn um un(t)s gants fom altn ŝrift-bilt tsū lȫzn.

    Spaß beiseite. Das Deutsche verfügt über eine im Vergleich zum Französischen und zum Englischen ziemlich einfache Orthografie. Ich hätte vielleicht mehr in Richtung niederländische Rechtschreibung reformiert: neben der Abschaffung der Großschreibung gemeiner Substantive vor allem konsequentere Regeln bei den Kurz- und Langvokalen, vielleicht auch ein Trennzeichen für getrennt gesprochene Vokale, zum Beispiel: „Der be-amte beamte (=biemte) ihn hooch.“

    Schlusssatz: Ich hatte immer den Eindruck, dass sich die mit den geringsten Kenntnissen der alten wie der neuen Rechtschreibung am meisten über die Rechtschreibreform aufgeregt haben.

    • Mischutka

      @ Lionne : Dah hasste dier aber sähr fiehl Müe gegebben bai den ärsten fir Raien. Tol jemachd. Unt dan auv dise Idde zu komen. Härslichen Jlükwuntsch. Räspäkt. !
      N.B..: Bai mier isd ales in rod unterschrichen. Hape isch ätwa Schraibveler gemachd ? Danque vür daine libe Andword. Biss ballt ………..

  2. Die neue Rechtschreibung ist weder einfacher, schwieriger oder logischer als die alte. Ausnahmen der Regel wird es immer geben.
    Korrektes Schreiben ist ein kontinuierlicher Lernprozess, der nie abgeschlossen ist, wie so viele Prozesse im Leben. Das ist kein Problem sondern eine Herausforderung.
    Lernen hält den Geist jung!!

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